 Geistiges Heilen als Therapieform: Was wird aus ihr? Viel wird davon abhängen, ob es über die Esoterikwelle
hinauswächst, die es in den siebziger Jahren ins öffentliche Bewußtsein zu spülen begann, und zu einem eigenständigen Sein findet, statt sich von ihr weitertragen zu lassen wie die Schaumkrone von der Woge. Denn ob die "Welle" je zur "Wende" wird, wie New Age-Sehnsüchtige an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend wähnen, ist ebenso unsicher wie die Aussicht, daß daraus letztendlich ein Gewinn für die Menschheit würde.
Wird der gegenwärtige Esoterikboom, und mit ihm der Run auf vermeintliche "Wunderheiler", auf kurz oder lang ebenso abebben wie jene "Spiritismus-Welle", die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Nordamerika auf Westeuropa überschwappte? Auslöser damals war der berüchtigte "Spuk von Hydesville", einer Ortschaft im US-Bundesstaat New York. Dort schien die Bauernfamilie Fox seit 1848 vom Schabernack eines Poltergeists bedrängt zu werden; mittels eines Klopfalphabets konnten sie mit dem vermeintlich Jenseitigen sogar kommunizieren. Die Presseberichte darüber lösten eine Massenbewegung aus: Hausfrauen und Fabrikarbeiter, Sekretärinnen und Verkäufer versammelten sich nun in abgedunkelten
Wohnstuben, um Geister Gläser und Tische rücken zu lassen, Pendel schwingen oder sinnlich erscheinen zu lassen. Doch Vergleiche mit jener Welle hinken. Sie brach sich an der noch intakten Autorität der christlichen Amtskirchen, dem noch unerschütterten Fortschrittsglauben an eine Wissenschaft, die für Geisterhaftes keinen Platz hatte, und der erbärmlichen Beweislage, die kritischen Zeitgenossen wie
Sigmund Freud vor "der schwarzen Schlammflut des Okkulten" grauen ließ. Auch fehlte jener "Welle" die verführerische Utopie des "New Age": Wer sich von ihr mittragen ließ, wähnte sich jenseitigen Sphären näher, nicht aber einem rosigen Übermorgen im Diesseits, das ein brachliegendes, schier unbegrenztes Potential zur Selbstverwirklichung, Heilung und Selbstheilung entfesselt.
Eines allerdings verbindet die vermeintlichen Wellen von damals und heute: Keine hat einen zeitweiligen drastischen Einstellungswandel heraufbeschworen, den ihr Ende hätte rückgängig machen können. Was anschwillt und abebbt, ist lediglich die öffentliche Aufmerksamkeit. Der Esoterikboom unterliegt wie jede Massenbewegung dem sozialen
Wandel; ihn für unumkehrbar zu halten, hat jedoch triftige Gründe. Schon jetzt zeichnen sich drei Lager ab: - Erlebnishungrige, die Spektakel suchen. An Okkultem fasziniert sie der unheimliche Augenschein - das rückende Glas, der klopfende Tisch, die gruselige Geisterstimme auf Tonband, die weinende Marienstatue - und das prickelnde Feeling: Astraltrips und Supermind, Turbo-Erleuchtung und Instant
-Heilung mit Workshop-Quickies und Einmalsitzungen. Sie wollen staunen, bewegt und ergriffen sein. - Glaubenshungrige, die sich nach einem Religionsersatz für ein in Dogmen erstarrtes, verkopftes, erlebnisfernes Christentum sehnen. An Okkultem fasziniert sie in erster Linie die Aussicht auf ein glaubhaftes, auch emotional befriedigendes Gottes- und Weltbild, auf unmittelbare religiöse
Erfahrungen, auf Initiation und Erleuchtung, auf ein Ende der wachsenden Unsicherheit über moralische Werte, höchste Ziele und tieferen Sinn. Sie wollen sicher, geborgen und geführt sein. - Wissenshungrige. An Esoterik fasziniert sie vor allem der harte Kern von Anomalien, die sich herkömmlichen Erklärungsversuchen entziehen. Sie wollen experimentieren und belegen, diskutieren und theoretisch durchdringen.
Die beiden ersten Gruppen sind es, die den Esoterikmarkt seit drei Jahrzehnten boomen lassen. Vor allem sie decken sich eifrig mit Waren und Dienstleistungen, Eintrittskarten und Zertifikaten ein. Für die dritte Gruppe hingegen steht Forschung im Mittelpunkt.
Was wird aus diesen drei Lagern? Inzwischen zeichnen sich drei Tendenzen ab: Was anfangs spannend war, langweilt, sobald es den Reiz des Neuen verliert. Bloß Erlebnishungrige werden sich eine Zeitlang auf den esoterischen Supermarkt zwischen verschiedenen Angeboten unentschlossen hin und her bewegen, kleinere "Wellen" erzeugen und wieder verschwinden lassen, bis auch Esoterik als
Wirtschaftszweig in die Flaute gerät. Auf lange Sicht wird sich dieses Lager auflösen, um sich neuen Attraktionen zuzuwenden, sei es Cyberspace, holographischem Fernsehen oder künstlichen Erlebniswelten in gigantischen Freizeitparks. Auch das "Wunderheilen" wird, mangels wundersamer Totalremissionen am Fließband, für diese Klientel rasch an Attraktivität verlieren - neue Mittel und Methoden mit dem Touch des Wundersamen, mit
denen keineswegs nur die esoterische Medizin aufwarten kann, werden sie verdrängen. Esoterik als Glaubensinhalt wird eine immer einflußreichere religiöse Heilsbewegung begründen - und den schleichenden Zerfall der christlichen Amtskirchen beschleunigen. Ein Teil der Bewegung wird in zunehmend geschlossenere religiöse Subkulturen zerfallen, in denen sich die institutionelle Erstarrung der Amtskirchen wiederholt: in dogmatische Sekten mit eigenen
Priestern, Kultstätten, Ritualen und heiligen Schriften. (Der unsägliche, mit literweise Herzblut ausgefochtene Richtungsstreit zwischen einem halben Dutzend Reiki-Traditionen karikiert seit längerem im Kleinformat diese Tendenz.) Was Ideologien immer schon zusammenhielt, wird auch sie verbinden: eine chronische Abneigung gegen rationalen Diskurs, die kollektive Tour de Trance als Faszinosum. Wes Geistes Kind die Leithammel dieses
neuen religiösen Eifers und ihre Anhängerschaft sind, ist mühelos auf jeder Esoterikmesse zu besichtigen: Da hängen ansonsten leidlich gebildete Zeitgenossen atemlos an den Lippen von Geheimnisträgern und Erleuchteten, die zu Gitarrengeklimper Zahnplomben in pures Gold transformieren; sich seit Jahren nur von "göttlichem Licht" ernähren; Kriegsgefahren entschärfen, indem sie "Ki" einfach "in die Luft geben" mit dem Auftrag, dort anzukommen, wo und
wann auch immer es gebraucht wird; oder irgendeinen krausen ET-Fuzzi von den Plejaden channeln, sofern sie nicht gerade damit beschäftigt sind, sich dekorporierten "aufgestiegenen Meistern" oder gar Jesus persönlich als exklusives Sprachrohr anzudienen. Ein Großteil der populären Geistheiler fördert derartigen Kult - mit verheerenden Folgen für die Akzeptanz ihrer Heilweise außerhalb der Szene. Esoterik als Forschungszweig hingegen, kann ein neues wissenschaftliches Paradigma begründen, welches das bestehende, analytisch-mechanistische teils überwindet, teils erweitert: durch neue Modelle von Geist und Psyche, Raum und Zeit, Energie und Kausalität.
Die empirische Basis dieses neuen Paradigmas heißt "Psi": ein wachsender Datenberg von Anomalien, die das physikalische Weltbild von heute sprengen. Immer mehr, immer renommiertere Wissenschaftler wollen seine Existenz nicht mehr a priori ausschließen, richten Forschungsprogramme darauf aus, tüfteln an neuartigen Meßmethoden und theoretischen Modellen - und wagen sich damit verstärkt an die Öffentlichkeit, unbeschadet des Risikos, sich in der scientific
community zum Gespött zu machen. In Vereinigungen wie der "Society for Psychical Research" (SPR, London), der "Parapsychological Association" (PA, New York) oder der "Wissenschaftlichen Gesellschaft zur Förderung der Parapsychologie" (WGFP, Freiburg/Breisgau) sind Mitglieder ohne akademischen Grad und Hochschuldozentur Ausnahmen. Das Vorbild solcher Wissenschaftler steckt zunehmend höhere Bildungsschichten an - dafür mehren
sich die Anzeichen in Zeitungsfeuilletons und Wissenschaftsmagazinen, auf Kongressen und Fachtagungen. Vorbei sind die Zeiten, da linke Intellektuelle wie der Frankfurter Sozialphilosoph Theodor Adorno den Okkultismus verächtlich als "Metaphysik der dummen Kerle" abtaten.
Solche Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Aberglaube werden Esoterik mit Sicherheit nicht "bestätigen", ihre "Wunder" sichern - wohl aber auf einen harten Kern von experimentell überprüfbaren Fakten reduzieren, den ihr Skeptiker pauschal absprechen. Mag sein, daß eine erweiterte Physik des nächsten Jahrtausends solche Anomalien, einschließlich unerwarteter Genesungen unter den Händen von Geistheilern, zu
erklärbaren Normalfällen entzaubern wird. Doch was könnte Abermillionen von "therapieresistenten" Schwerstkranken besseres widerfahren, als daß in unser Gesundheitswesen insofern Normalität einkehrt? "Neue Gedanken und neue Wahrheiten", so war schon Arthur Schopenhauer (1788-1860) klar, "setzen sich in drei Stufen durch. "Zunächst werden sie belächelt. Dann werden sie bekämpft. Schließlich werden sie als Selbstverständlichkeiten angenommen."
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