Kaum ein einführendes Buch über diese sonderbare Therapieform versäumt es, der Erläuterung von “Theorien” ein eigenes Kapitel zu widmen. Doch strenggenommen hat nichts, was auf den betreffenden Seiten vorgetragen wird, die Bezeichnung “Theorie” verdient: im Sinne
eines Systems von gesetzesartigen Aussagen über Zusammenhänge zwischen beobachteten Ereignissen und Vorgängen sowie über die Ursachen dieser Zusammenhänge - ein System überdies, aus dem zuverlässige Prognosen und erfolgversprechende Handlungsanweisungen logisch abzuleiten sind. Was uns stattdessen geboten wird, sind Metaphern, in denen Geistheiler selbst zu umschreiben versuchen, was sie tun. Von “Kanälen” und “kosmischen Kraftquellen”, von “Schwingungen”
und “feinstofflichen Körpern”, von “Strömen”, “Feldern” und “Licht” ist die Rede. Diese Bilder sind anschaulich und in hohem Maße suggestiv. Doch vorläufig weiß niemand, ob es treffende, brauchbare Bilder sind - oder ob sie eher irreführen, weil sie an bekannte Naturerscheinungen denken lassen, die möglicherweise ganz anderen Prinzipien folgen. Bis jetzt steht lediglich fest, worauf geistiges Heilen nicht vollständig zurückzuführen ist:
- nicht bloß auf psychologische Wirkfaktoren wie Suggestionen und Placebo-Effekte;
- nicht bloß auf paranormale Fähigkeiten wie Psychokinese und Telepathie. (Die meisten
Geistheiler heilen nicht durch gezielte psychokinetische Einwirkungen auf Teile des Körpers oder auf eingedrungene Krankheitserreger, sondern durch unspezifische Reize auf den Organismus als Ganzem. Die Telepathie-Hypothese erklärt nicht, wie Geistheiler es fertigbringen, auch niedere Lebewesen, isolierte Zellen und anorganisches Material zu beeinflussen.)
- auch nicht auf bekannte physikalische Energien (und deren
informationsübertragende Eigenschaften) wie elektrische Ströme, magnetische Felder oder Radiowellen. (Dagegen spricht unter anderem, daß sich die von Geistheilern ausgehenden oder vermittelten Kräfte offenbar durch beliebige Entfernungen und Hindernisse nicht abschwächen lassen - und ihre Empfänger selbst auf anderen Kontinenten zielgenau erreichen.)
In Wahrheit machen uns die Phänomene, mit denen Geistiges Heilen die neuzeitliche Medizin und Naturwissenschaft herausfordert, bisher ebenso ratlos wie einst Fossilienfunde, die anscheinend für Darwins Evolutionstheorie sprachen, die Anhänger der biblischen Schöpfungslehre. In dieses Defizit an Erklärungen hinein wuchert ein Wust von unausgegorenen Spekulationen, derentwegen leider auch gesicherte Beobachtungen unverdientermaßen ins Zwielicht geraten.
Aber Erklärungsnotstand sollte Patienten nicht abhalten. Vielen Hilfesuchenden ist speziell beim geistigen Heilen mulmig zumute, weil sich niemand gerne eine Hoffnung macht, von der er nicht versteht, wie es überhaupt möglich sein soll, dass sie sich erfüllt. Wie soll Geistheilung gelingen können, wenn der Klient von seinem Therapeuten weit entfernt ist, ihm vielleicht niemals begegnete - und womöglich nicht einmal weiß, dass auf Distanz mit ihm gearbeitet wird? Wie sollen übermittelte "Heilkräfte" zielgenau, selbst zu anderen Kontinenten hin, einen bestimmten Empfänger erreichen können, ohne sich dabei im geringsten abzuschwächen: kranke Menschen ebenso wie Ratten und Hamster, Pilze in Petrischalen und Enzyme in Reagenzgläsern? Wenn zufällige Koinzidenzen und psychologische Mechanismen die Wirkungen Geistigen Heilens nur teilweise erklären - welche Faktoren spielen dann zusätzlich mit? Was ist das für ein unsichtbares therapeutisches Agens, das der schieren Intention, der konzentrierten Absicht eines dafür begabten Menschen zu gehorchen scheint?
Zum Vergleich: Wie soll jemand nach Osten segeln und im Westen ankommen können? Wie soll man einen fast so deutlich hören können, als stünde er neben uns, wenn er doch weiter weg ist, als die lauteste Stimme jemals reichen kann? Wie soll einer zu sehen sein, der sich hinter dem Horizont befindet? Ehe Kolumbus die Welt umsegelte und die Erde für uns aufhörte, eine Scheibe zu sein; ehe Telefon und Fernsehen erfunden wurden - und die für technische Umsetzungen nötigen physikalischen Gesetzmäßigkeiten begriffen wurden -, hatte niemand eine Vorstellung davon. Trotzdem kann selbst der unzivilisierteste Urwaldbewohner von den Vorzügen des Fernsprechers, des Fernsehers profitieren, sobald er gelernt hat, die richtigen Knöpfe zu drücken. Dass vorerst niemand wirklich weiß, wie und warum Fernheilen wirkt, ändert nichts daran, dass es wirkt. Was zählt für Patienten mehr? Keiner wußte, wie Penicillin wirkt (oder dass es überhaupt existiert), ehe der britische Biologe Alexander Fleming 1929 die zufällige Entdeckung machte, dass das Wachstum von Bakterien durch Pilze aufgehalten wird. Ihm fiel auf, dass eine Glasschale mit einer Staphylokokkenkultur von Schimmel befallen war - und dass rings um die Schimmelkolonie die Kokken in scharfem Umkreis durch Auflösung zerstört waren, wohingegen sie in weiterem Abstand unbehindert weiterwuchsen. Daraus schloss er, dass von der Schimmelkolonie eine wachstumshemmende (“antibiotische”) Substanz in die Umgebung diffundiert sein müsste. Es vergingen noch viele Jahre, ehe diese Substanz identifiziert und ihre chemische Zusammensetzung aufgeklärt war. Wäre Flemings Entdeckung mit dem Argument abgetan worden, man wisse nichts darüber, wie Pilze Bakterien den Garaus machen, so hätte sich die Einführung lebensrettender Antibiotika verzögert. Ähnliche Beispiele liefert die Medizinhistorie in Hülle und Fülle: Schon den als “Hexen” verschrieenen Kräuterweiblein des Mittelalters war bekannt, daß ein aus den Samen der Herbstzeitlose gewonnenes Gift bei Gicht wunderbar schmerzstillend wirkt; doch erst in diesem Jahrhundert wurde entdeckt, dass es sich bei diesem Wirkstoff um Colchicin handelt. Dass wir die Funktionsweise eines Instruments noch nicht recht verstehen, schmälert seinen Nutzen nicht im geringsten. Schon ein Neandertaler setzte Wurfgeschosse ein, ohne von Ballistik und Gravitation die geringste Ahnung zu haben. Eingedenk der Vorläufigkeit und Fehlbarkeit allen menschlichen Wissens, und gemessen an den gewaltigen Zeiträumen, die der Evolution unserer Naturerkenntnis hoffentlich noch bleibt, stehen wir im Verständnis der Gesetzmäßigkeiten, die hinter Geistigem Heilen wirken, womöglich noch auf der Stufe von Neandertalern. Da ist jede Menge Pragmatismus angebracht, ganz besonders für die Aussortierten des konventionellen Medizinbetriebs.
Quellenangaben und weitere Literaturhinweise in Geistheiler - Der Ratgeber. |