Auch die Entwicklung der Menschheit folgt, gemäß Blavatsky, einem Stufenplan, der nacheinander sieben "Wurzelrassen" entstehen lässt. Die erste dieser Rassen stammt von Mondbewohnern ab und bevölkerte einen Kontinent namens "Unvergängliches Heiliges Land". Die zweite Rasse - Hyperboreer, Schweißgeborene oder Knochenlose genannt - bewohnte ein riesiges Gebiet nahe des Nordpols. Weil beide Rassen noch körperlos waren, erledigten sie ihre Fortpflanzung
durch Geisteskraft. Die dritte Wurzelrasse, zugleich die erste mit einem Körper, soll Lemuria besiedelt haben, eine gewaltige, inzwischen im Indischen Ozean versunkene Landmasse südlich der Wüste Gobi. Heimat der vierten Wurzelrasse war einst das Inselreich Atlantis. Unsereins gehört der fünften Wurzelrasse an, die in Nordasien entstanden sein und sich von dort nach Süden und Westen ausgebreitet haben soll. Auf uns werden die beiden letzten Wurzelrassen folgen. Mit deren Ende wird auch die
Zeit der Menschheit auf der Erde abgelaufen ein. Sie wird sich auf einen anderen Planeten begeben, wo der Kreislauf auf höherer Stufe von neuem beginnt.
Von ihren "Meistern" ebenfalls offenbart wurde der Blavatsky ein Menschenbild, das in Variationen bis heute die Esoterikbewegung beherrscht und auch zu den Glaubensgrundsätzen eines Großteils der Heilerszene gehört: Der Mensch hat nicht nur einen Körper, sondern mehrere. Über den "physischen" Leib hinaus besitzt er
auch mehrere "feinstoffliche": einen "astralen", einen "mentalen" und einen "ätherischen". Wer das glaubt, kann seine Bemühungen, andere zu heilen, schwerlich auf die “grobstoffliche” Physis beschränken - er muss alle übrigen Ebenen miteinbeziehen, und eben dies versuchen heutige Heiler selbst dann, wenn sie von ihrer Vordenkerin Blavatsky nicht viel mehr als den Namen kennen.
Indes bekam die Blavatsky gerade auf der physischen Ebene
in ihren letzten Indienjahren zunehmende Scherereien. Anhänger, die die körperliche Existenz von Madames "Mahatmas" widerspruchslos für bare Münze nahmen, brechen vereinzelt zu Expeditionen ins Himalayagebiet auf, von wo sie teils frustriert, teils überhaupt nicht mehr zurückkehren, da sie auf ihren Fußmärschen erfrieren oder sonstwie das Zeitliche segnen. Übel ins Gerede kommen die physischen "Wunder" während Blavatskys Séancen, welche die Echtheit ihrer medialen Kontakte
unterstreichen sollten. Zwei ihrer Hausangestellten, das Ehepaar Coulomb, packen bei dem von protestantischen Missionaren herausgebenenen Christian College Magazine aus: Ihnen sei von Madame Blavatsky aufgetragen worden, eine Strohpuppe mit einem Turban anzufertigen, die in Mondnächten im Freien herumgetragen und als Erscheinung von Meister Koot Hoomi vorgeführt werden sollte. "Materialisierte" Briefe, die von der Zimmerdecke herabflatterten, seien alles andere als astrale Post der
"Meister" gewesen, sondern durch einen Spalt in der Holzdecke heruntergeworfen worden. Noch schlimmer kommt es für Madame Blavatsky, als die englische Society for Psychical Research (SPR) einen jungen australischen Forscher, Richard Hodgson, damit beauftragt, die "unglaublichen Wunder" vor Ort unter die Lupe zu nehmen. In seinem 200seitigen Bericht bestätigt Hodgson nicht nur die meisten Vorwürfe, die von den Coulombs erhoben worden sind, sondern ergänzt sie noch um weitere. Unter anderem soll aus einem scheinbar soliden Holzkästchen, in dem sich angeblich Meisterbriefe "materialisierten", eine verborgene Klappe aufgesprungen sein, als hart dagegengeklopft wurde: ein raffiniertes Versteck. Empört, mit reichlich angekratztem Ruf, aber ungebrochen verlässt die Blavatsky daraufhin Indien für immer; im März 1885 bricht sie Richtung Europa auf. Nach Zwischenstationen in Italien, Deutschland und der Schweiz lässt sie sich in England nieder, wo 1888 ihre Geheimlehre erscheint (im Original Secret Doctrine,
die dreibändige deutsche Übersetzung erschien zwischen 1898 und 1906). Deren philosophische Höhenflüge finden derart Anklang, dass darüber die Betrugsgerüchte bald in Vergessenheit geraten. Ihren Ruhm indes kann die Blavatsky nicht mehr lange genießen: Am 31. Juli 1891 stirbt sie 60jährig in London an der Bright´schen Krankheit, einem Nierenleiden. Die Londoner Pall Mall Gazette würdigt sie als "eine der bemerkenswertesten Frauen unseres Jahrhunderts". Und sogar die New Yorker Tribune ruft ihr nach, sie habe Außerordentliches geleistet, um "uns die lange Zeit verborgenen Schätze des Denkens, der Weisheit und der Philosophie des Ostens" näherzubringen. Hundert Jahre später wird sie, der unübertreffliche Prototyp aller durchgeknallten Eso-Tussies, von Deutschlands meistgelesenem Esoterikmagazin zur "Frau des Jahrtausends" und "Stamm-Mutter des neuen Äons" hochgejubelt.
Blavatskys Tod hinderte die Theosophische Bewegung freilich nicht daran, trotz mannigfacher Richtungskämpfe und Abspaltungen weiterzuwachsen: In den zwanziger Jahren erreichte sie einen Stand von 45'000 Mitgliedern. Im Wettbewerb um die wahre Nachfolge sind etliche Teile von Blavatskys literarischer Hinterlassenschaft überarbeitet und weiter ausgefeilt worden. Unter anderem wurden die "Meister" in eine systematische Ordnung gebracht und aus diesseitigen Gefilden ausgelagert; kaum ein Theosoph sucht sie heute noch in entlegenen zentralasiatischen Bergregionen, sondern vorzugsweise in rein geistigen Welten, zu denen sie körperlos "aufgestiegen" sind. Ein Grundgedanke blieb indes erhalten: der Glaube an eine "Große Weiße Bruderschaft", bestehend aus vervollkommneten, mit geradezu göttlicher Einsicht und Macht ausgestatteten Meistern, die unser Sonnensystem durch Abstrahlungen mit "geistigen Energien" regieren und die Durchführung eines "Weltenplans" überwachen - in Zusammenarbeit mit theosophisch Aufgeklärten, versteht sich. Dieser Plan sieht für jeden einzelnen, wie für die Menschheit insgesamt, eine stufenweise Entwicklung vor, die nicht auf der physischen Ebene endet, sondern auf höhere Ebenen führt, die uns der Göttlichkeit immer näher bringt.
Im selben Jahr, als Blavatsky in Indien zum Buddhismus übertrat, kam in England eine Frau zur Welt, mit der die Theosophie bis heute zur Inspirationsquelle vieler Geistheiler geworden ist: Alice Ann Le Trobe-Bateman, die unter dem Namen ihres zweiten Ehemanns, des zeitweiligen TG-Generalsekretärs Foster Bailey, bekannt wurde. Am 16. Juni 1880 in Manchester geboren, will sie schon als Fünfzehnjährige mit dem Aufgestiegenen Meister "Koot Hoomi" medial in Verbindung gekommen sein, ohne bis dahin überhaupt theosophische Schriften gelesen oder jemals etwas von Blavatskys Mahatmas gehört zu haben. 1907 ehelicht sie einen Pfarrer, von dem sie 1919 geschieden wird. Vier Jahre zuvor, im Jahre 1915, war sie in Kalifornien der "Adyar-TG" beigetreten. Eifrig studiert sie die Geheimlehre sowie die Studie über das Bewusstsein der Blavatsky-Nachfolgerin Annie Besant. Nach bestandener Bewährungszeit wird Alice Bailey 1918 in den innersten Zirkel der "Theosophischen Gesellschaft" aufgenommen, die "Esoterische Schule", die fortgeschrittenen Eingeweihten vorbehalten ist. Deren Zwiste und Intrigen lernt sie kennen und zunehmend verachten. Ein Jahr später beginnt ihre telepathische Verbindung mit "dem Tibeter", Meister Djwhal Khul. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte enthüllt er ihr eine "neue Lehre", druckreif diktiert für eine Vielzahl umfangreicher Bücher. 1920 löst sich Alice Bailey von der Adyar-TG und gründet die Theosophical Association,
die sie bald darauf in "Arkanschule" umbenennt (von lat. arcanum: verschlossen, geheim; Alchemisten bezeichneten damit den Stein der Weisen, auch die geheimen Allheilmittel). Hauptthema ihrer Lehren ist die Gegenwart einer Hierarchie von übermenschlich vollkommenen Wesen, die für die Leitung der menschlichen Geschicke verantwortlich sind und das Neue Zeitalter vorbereiten. Zu ihnen zählt Bailey auch Jesus Christus, dessen Wiederkehr nach ihrer Überzeugung unmittelbar
bevorstehe. Womöglich weilt er sogar schon mitten unter uns, wenn der Bailey-Anhänger Benjamin Creme recht hat: Seit 1974 wird der Chefredakteur der weitgehend journalismusfreien Zeitschrift Share International nicht müde, die baldige Ankunft von "Maitreya" zu prophezeien: dem "Weltlehrer" und "Haupt der geistigen Hierarchie der Meister", der sich schon vor 2000 Jahren "manifestiert" habe, indem er "seinen Jünger Jesus überschattete", diesmal aber höchstpersönlich kommen wird - und zwar nicht vom Himmel hoch, sondern von "seinem Zentrum im Himalaya". Im Juli 1982 berief Creme in Los Angeles eine Pressekonferenz ein, um sich noch ein Stück weiter aus dem Fenster zu lehnen: Seit Juli 1977 weile Maitreya bereits mitten unter uns, nämlich in London, wo er "als ganz normaler Mensch von heute" inmitten der asiatischen Gemeinde lebe - und dort offenbar zu normal daherkommt, um aufzufallen.2 Share International allerdings soll Maitreya seit April 1988 "über einen engen Mitarbeiter" mit "einer Reihe von Artikeln beliefern", was der Auflage der Zeitschrift vorerst eher zugute gekommen zu sein scheint als dem "Weltenplan".
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