Aber was berechtigt uns dann überhaupt dazu, ein und denselben Begriff zu verwenden? Wie könnten bestimmte Vorgehensweisen "Geistiges Heilen" nennen, wenn ihnen ein Wesensmerkmal fehlt? Weil seine mannigfachen Ausprägungen einander ähneln wie die Mitglieder einer Familie, macht uns wiederum Ludwig Wittgenstein klar: "Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und überkreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort
‚Familienähnlichkeiten'; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc." In diesem Sinne bilden alle Formen von Geistheilerei eine "Familie" - nicht mehr. Und je mehr sie sich mit jedem neuen Ableger, jeder weiteren Generation voneinander entfernen, desto müßiger wird das Projekt, Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren, die sie allesamt abdecken.
Aller Voraussicht nach werden wir uns mit deutlich weniger zufriedengeben müssen: mit Teiltheorien über mehr oder minder kleine Ausschnitte des Geistheilspektrums. Mit dem Abschied vom Essentialismus wird es uns leichter fallen, uns damit abzufinden. Bei Geistigem Heilen, so lässt sich allenfalls definieren, handelt es sich um ein Irgendetwas, an dessen Zustandekommen ein Teil jener Leute, die sich "Heiler" nennen, zumindest mitbeteiligt scheinen - und das überzufällig oft dazu
führt, dass es einem Patienten in irgendeiner Hinsicht besser geht, ohne dass uns Mediziner und Biologen, Physiker und Psychologen erklären könnten, wie es dazu kam. Und eine solche Definition erhellt nichts, sondern führt vor Augen, wie sehr wir im Dunkeln tappen.
Neben einer Wesensbestimmung erwarten Leser - nicht nur wissenschaftlich interessierte, sondern auch Patienten, die nach "der besten" Methode Ausschau halten - von diesem resümierenden Abschnitt auch einen
Leistungsvergleich. Welche der vorgestellten Heiltechniken ist die wirkungsvollste - sei es bei Krankheiten allgemein, sei es bei bestimmten Indikationen?
Auch hierzu lässt sich leider wenig Erhellendes sagen. Das liegt zum einen an einem enormen Forschungsdefizit: Zwar kann sich die Anzahl der binnen eines halben Jahrhunderts durchgeführten Studien mit signifikant positivem Ergebnis durchaus schon sehen lassen, doch reicht sie bei weitem nicht aus. Bis heute ist keine Fernheilweise
auch nur annähernd so intensiv getestet und eindrucksvoll bestätigt worden wie die christliche Fürbitte - aber woher wissen wir, wie gut die anderen Varianten abschneiden würden, wenn sie ebenso ausgiebig auf den Prüfstand der Forschung kämen?
Hinzu kommt ein grundsätzliches Problem, mit dem vergleichende Therapieforschung seit eh und je ringt. Es ergibt sich aus der überwältigenden Komplexität der Faktoren, die im Heilprozess mitspielen und den Ausgang beeinflussen. Wie
beispielsweise sollten wir die Effizienz von Fürbitten, Umbanda-Riten und Reiki-Gaben miteinander vergleichen? Was sie therapeutisch ausrichten, hängt unter anderem ab
- von der Art und Schwere der speziellen Störung, ihrem Ursprung, ihrem Verlauf, ihrer symptomatischen Ausprägung;
- von der Person des Therapeuten: seinem Charakter, seinem Auftreten, seinem Vertrauen in die eigenen Verfahren und Erklärungsmodelle, vielleicht auch von seiner Ausbildung und Berufserfahrung; nicht
zuletzt von seinen sozialen und kommunikativen Fähigkeiten im Umgang mit Hilfesuchenden; aber auch von seiner "Tagesform".
- vom Klienten: seiner seelischen, geistigen und körperlichen Verfassung; seinem sozialen Umfeld zu Beginn, während und nach Abschluss der Behandlung; nicht zuletzt auch von seiner "Patientenkarriere".
- von der Art, Tiefe und Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehung, die Therapeut und Klient zueinander aufbauen;
- von den
Umständen der Beobachtung: Gleichgültig, in welchem Rahmen wir Heiler verschiedener Traditionen vergleichend zu testen versuchen - immer werden die äußeren Bedingungen gewissen Eigenarten der einen Heilweise eher entgegenkommen als der anderen.
- von den prinzipiellen Grenzen des Experiments: Es besteht Grund zu der Befürchtung, dass es nicht bloss ziemlich schwierig, sondern prinzipiell unmöglich ist, Untersuchungssituationen herzustellen, in denen andere Wirkfaktoren als der Einfluss
des Heilers vollständig kontrolliert bzw. ausgeschlossen werden können - insbesondere der Einfluss der beteiligten Forscher.
Weiter erschwerend kommt hinzu, dass nicht alle Geistheiler "rein" behandeln: Ein Großteil geht eklektisch vor, er bedient sich pragmatisch der Gedanken und Techniken verschiedener Schulen. (Ja, die meisten Geistheiltraditionen entstanden von vornherein als zusammengeflickte Versatzstücke von Vorgängern.) Dabei machen Heiler keine Ausnahme. Auch
Psychotherapie heute gleicht einem Werkzeugkasten, vollgepackt mit mehr oder minder geeigneten Instrumenten für besondere Verwendungen, aber ohne ein Allzweck-Handwerkszeug. Doch wer käme schon auf die Idee, einen Schraubenzieher geringzuschätzen, weil sich mit ihm kein Nagel in die Wand schlagen oder ein Loch bohren lässt?
All diese Einschränkungen sollten uns aber nicht davon abhalten, unsere Erkenntnislücken zu verkleinern und Indizien dafür zu sammeln, dass Geistiges Heilen wirkt,
auch auf Distanz - zumindest in manchen Varianten, dank mancher Anwender, bei manchen Patienten, bei manchen mehr oder minder fatalen Diagnosen, unter besonderen Umständen. |