“Einmal alle tausend Jahre, nein, alle zweitausend Jahre kommt (...) ein Mensch auf die Erde, um das Schicksal der menschlichen Rasse zu wenden. Halten wir für einen Moment inne, um das unglaubliche Privileg zu würdigen, einen solchen Menschen gekannt zu haben."
Der Tote, bei dessen Begräbnis sich ein befreundeter Arzt zu solch emphatischem Nachruf verstieg, würde auf einer Rangliste der tragischsten Forscherschicksale des 20. Jahrhunderts mit
Sicherheit einen Spitzenplatz belegen: der österreichische Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957). Spötter verunglimpfen ihn bis heute als einen durchgeknallten Spinner, der bessere Orgasmen für eine bessere Gesellschaft predigte, ein ätherisches Etwas in einem lächerlichen Kasten einzufangen trachtete, Regenwolken aus meterlangen Metallrohren wegschoss und in der felsenfesten Überzeugung starb, Ufos aus dem All würden der Erde Vitalenergie absaugen. Anhänger hingegen feiern ihn als den
originellsten, kreativsten und eigenständigsten Schüler Sigmund Freuds, der ein Leben lang ebenso einsam wie kompromisslos verfocht, was er abseits des akademischen Mainstream an tieferen Wahrheiten über die Bedingungen von Gesundheit und Heilung entdeckt zu haben meinte. Seine glühendsten Verehrer treiben um ihn bis heute einen skurrilen Götzenkult von Elvis-ähnlichen Ausmaßen, mit dem "Wilhelm Reich Museum Orgonon" in Rangeley, US-Bundesstaat Maine, als zentraler Pilgerstätte. So
oder so beeinflusst sein Werk, in dem die Grenzen zwischen Genialität und Wahnsinn zunehmend verschwammen, bis heute nicht nur eine stattliche Teilströmung der westlichen Psychotherapie; auch etliche Geistheiler lassen sich von ihm inspirieren, soweit sie es zu kennen meinen - auch dann, wenn sie "fernbehandeln".
Am 24. März 1897 in Dobrzcynica in Galizien geboren, verbringt Reich seine Kindheit auf dem elterlichen Bauernhof, von Gleichaltrigen ziemlich isoliert, dafür
in umso innigerem Kontakt mit der Natur, den täglichen Routinen der Landwirtschaft - und der deutschen Kultur der österreichisch-ungarischen Oberschicht, an der sich seine Eltern eher orientierten als an ihrer jüdischen Tradition. Sein früh erwachter Forscherdrang wird von einem Privatlehrer befriedigt - der sich auch ansonsten auf mancherlei Fremdbefriedigung versteht -, ansonsten durch sein Leben im Freien. Er ist gerade Vierzehn, als die über alles geliebte Mutter Selbstmord begeht,
nachdem der 12jährige Wilhelm ihre muskelpanzerbrechende Liaison mit dem Hauslehrer unbedacht an den Vater verraten hat; drei Jahre später stirbt dieser, gebrochenen Herzens, an Lungentuberkulose, mit der er sich vorsätzlich infiziert haben soll, wie Chronisten mutmaßen. Obgleich noch ein Schuljunge, versucht Reich, das elterliche Gut durchzubringen - vergeblich, im Ersten Weltkrieg verliert er Hof und Heimat. Er wird Offizier in der Österreichischen Armee. Nach Kriegsende geht er mittellos
nach Wien, wo er eine Zeitlang juristische Vorlesungen belegt, ehe er sich zu einem Medizinstudium entschließt, wobei "ich mich, ausgehungert von vierjährigem Nichtstun im Ersten Weltkrieg ..., auf alles Wissenswerte stürzte, das mir in den Weg kam." Die Begegnung mit der Psychoanalyse, über Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) als Einstieg, werden für Reich zu einem regelrechten Erleuchtungserlebnis: "Man muss die ... Atmosphäre in der Sexologie und Psychiatrie vor Freud kennen, um die Begeisterung und Erleichterung zu begreifen, die mich erfasste, als ich ihm begegnete ... Der Sexualtrieb fristete in der Wissenschaft ein Sonderdasein ... Freud hatte eine Straße zum klinischen Verständnis der Sexualität gebaut. Die reife Sexualität geht aus sexuellen Entwicklungsstufen in der Kindheit hervor. Es leuchtete sofort ein. Sexualität und Fortpflanzung sind nicht dasselbe ... Das sexuelle ist weit umfangreicher als das genitale Erleben ... Freud deckte Widersprüche im Denken auf und brachte Logik und Ordnung in die Sache." Ab 1919 - in diesem Jahr lässt sich Reich, ganze 22 Jahre alt, als Psychoanalytiker nieder - beschäftigt ihn die "Libido"-Theorie, in der er den Lebensnerv der Psychoanalyse sieht. Die Forschung vor Freud hatte sie einfach gleichgesetzt mit dem bewussten sexuellen Verlangen. Reich hingegen, wie damals auch Freud, betrachtet "Libido" als die Energie des Sexualtriebs, und diese "Energie" verstehen beide gleichermaßen als ein ganz und gar natürliches, physikalischer Forschung zugängliches Phänomen, wie eine am Modell der Elektrizität entwickelte Wortwahl verrät. Schon 1894 hatte Freud von "Quantitäten von Erregung" gesprochen, die abnehmen, zunehmen, verschoben, sich entladen und über die Psyche ausbreiten konnten wie eine elektrische Ladung über die Oberfläche eines Körpers. Krankheit entsteht, wenn sich diese Energie "staut"; in Symptomen "entladen" sich "Quantitäten von Erregung" abnorm, nachdem es auf andere, als gesund geltende Weise mit ihrer Abfuhr nicht mehr klappt. Psychoanalyse heilt, indem sie Ventile zur geordneten, sozialverträglichen Energieabfuhr öffnet. Reich ist zuversichtlich, diese Energie eines Tages messen zu können. Fünfzehn Jahre später glaubt er, die Identität von bioelektrischer und sexueller Energie nachgewiesen zu haben.5 Auf seinem Weg, die Natur dieser "Energie" zu ergründen, ihren Anteil an der Entstehung von seelischen Störungen aufzuklären und Erkenntnisse darüber für die Therapie nutzbar zu machen, entfernt sich Reich allerdings zunehmend von seinem geistigen Übervater. Nach und nach gelangt er zu der Überzeugung, dass die Sexualität, die grundlegende Energie des Menschen und sein primärer Trieb, zugleich der Urtrieb alles Lebendigen sei - und keineswegs isoliert betrachtet werden dürfe: In ihr manifestiere sich nämlich eine fundamentale Energie, welche die gesamte Natur, ja das Universum durchströme. Reich nennt sie Orgon, und im Orgasmus sieht er den Schlüssel dazu, diese sexuelle Energie zu harmonisieren: Wer Qualität, Häufigkeit und Dauer des Orgasmus verbessere, sorge zugleich dafür, dass der Strom sexueller Energie stärker und ausgeglichener fließe.
Um einen Patienten zu heilen, genügt es nach Reich nicht, ihn mit den rein verbalen Mitteln der herkömmlichen "Schwätz-Psychoanalyse" an einen Punkt zu führen, an dem sich gestaute Energie kathartisch "entlädt". Denn die Persönlichkeit besteht aus Schichten von Widerständen und Schutzvorrichtungen, die auch die körperliche Ebene erfassen: Dort umgibt sie sich mit einem regelrechten "Muskelpanzer", ablesbar insbesondere an typisch starren Bewegungen, Haltungen, Stellungen, Gesten. Dieser "Panzer" hemmt den freien Fluss des Orgons. Deshalb muss er zuallererst gelockert werden, und dazu empfiehlt und praktiziert Reich etliche brachiale Techniken wie Schreien, Schlagen und erzwungenes Erbrechen, womit er die Fachwelt gehörig verstört. (Diese körperbezogene Ausrichtung der Psychoanalyse entwickelten Alexander Lowen und John Pierrakos später in der "Bioenergetik" weiter.)
Eine effektive Therapie muss nach Wilhelm Reich auch "negative" Zustände der Orgonenergie berücksichtigen: "Staut" sich freies Orgon über längere Zeit, so verwandelt es sich in DOR (Deadly Orgone Energy)
- gleich einem einst fließenden Gewässer, das zum fauligen Tümpel wird, wenn es Tage oder Wochen gestaut wird. Diese andere, pathogene Form der Lebensenergie beschreibt Reich als dunkel, unbeweglich, fest; sie könne den gesamten Stoffwechsel beeinträchtigen, schlimmstenfalls sogar zum Versagen von Organen und zu Lähmungen führen.
Es ist keineswegs sexualphilosophische Spekulation, die Reich zur Orgon-Theorie führt, sondern mikrobiologische Grundlagenforschung. Von den Nazis ins Exil
getrieben, gründet Reich 1936 in Oslo das "Institut für Sexualökonomische Forschung", das er, von Freunden großzügig gesponsert, für damalige Verhältnisse vorzüglich ausstatten kann. Dort verwendet Reich einen Großteil seiner Forschertätigkeit darauf, in aufwendigen Versuchsreihen - unter anderem mit Protozoen ("Urtierchen") und Mäusen - die Existenz der mysteriösen Lebensenergie experimentell nachzuweisen und zu ergründen, wie sie wirkt. Hochwertige Mikroskope liefern ihm
dafür bis zu 6000fache Vergrößerungen, mit denen er auf Zellebene noch feinste Bewegungen studieren kann. In einem typischen Versuch weicht er Heu in frischem Wasser auf und lässt es dann 10 bis 14 Tage stehen; Protozoen aus der Luft finden darin einen idealen Nährboden. Dabei macht Reich eine Beobachtung, die ihn elektrisiert: An den Rändern der Gräser bilden sich Vesikeln - "kleine Bläschen, Höhlen, Säcke, Zysten, hohle Strukturen". Einzelne solcher Bläschen neigen dazu,
sich zu Häufchen zusammenzurotten, die sich wiederum miteinander verbinden und eine erstaunliche Aktivität zeigen, die Reich im Zeitraffer fotografisch festhält: Innerhalb solcher Haufen rollen einzelne Bläschen rhythmisch aufeinander zu und voneinander weg; große Gruppierungen solcher Bläschen beginnen zu rotieren, und über 3000-fache Vergrößerungen machen sichtbar, dass sie sich rhythmisch ausdehnen und zusammenziehen. Diese mobilen Formen nennt Reich zunächst "Plasmoide", weil
ihn ihr Verhalten an die plasmatischen Bewegungen der Protozoen erinnern; später spricht er von Bionen. Nachdem er die Lösungen sterilisiert und weitere Kontrollen vorgenommen hat, schließt er aus, dass es sich dabei um Protozoen handelt, die durch Infektion aus der Luft entstanden sind. In den Bionen sieht Reich kleinste Ureinheiten des Lebens, aus denen Zellen und somit alles Organische entstehen, wie er glaubt. |