Doch was diagnostizieren und behandeln Radioniker eigentlich? Noch bis Ende der sechziger Jahre verharrte ihr Selbstverständnis auf einer anatomisch-physiologischen Ebene: Es werden, wenn auch mit unkonventionellen Mitteln, dieselben Organe, Funktionsbereiche und körperlichen Symptome behandelt, mit denen sich auch Ärzte befassen. Esoterisch erweitert hat sich dieses Betätigungsfeld erst David V. Tansley. Der englische Chiropraktiker hatte sich schon viele Jahre
lang mit fernöstlicher Philosophie befasst, als er 1967 durch eine Buchlektüre auf die Radionik aufmerksam wurde und sich davon sofort faszinieren ließ. Und mit Anleihen bei der traditionellen Medizin Chinas, Indiens und Tibets baute er das Konzept der "Lebensenergie", das bei Ruth Drown noch eine vage Idee geblieben war, zu einer diffizil verästelten Radioniktheorie aus, die er zwischen 1972 und 1982 in vier Büchern entfaltete. "In der Weisheit des Ostens", so führt
Tansley aus, "ist der Mensch schon immer als eine Verbindung sich gegenseitig durchdringender Energiefelder angesehen worden und Krankheit als ein Prozess der energetischen Unausgewogenheiten innerhalb dieser Felder oder Energiekörper. (...) Herkömmliche medizinische Modelle der Anatomie und Pathologie ... werden dem wahren Potential der Radionik nicht im entferntesten gerecht. Aus dieser Überlegung heraus begann ich, östliches und westliches Wissen vom Menschen als Energie und weniger
als Form aufeinander zu beziehen". Es entstand "ein Modell feinstofflicher Körper, nämlich des ätherischen Körpers ..., des emotionalen Körpers und des Verstandes- oder geistigen (mentalen) Körpers. Innerhalb dieser Körper gibt es Energiezentren oder Chakren ... Durch diese Energiewirbel fließen bestimmte Energien - zuwenig oder zuviel davon bringt den feinstofflichen Körper aus dem Gleichgewicht und ruft schließlich physische oder psychologische Probleme hervor. Es erschien mir
logisch, dass es, wenn Krankheit sich zuerst auf einer feinstofflichen Ebene manifestierte, bevor sie sich physisch niederschlug, im Interesse des Patienten und des Behandlers wäre, wenn sie auf dieser Ebene identifiziert und behandelt werden könnte, bevor sie zu einem richtigen Problem würde." Damit eröffneten sich der Radionik neue, "feinstoffliche" Ebenen, auf denen es Krankheiten zu erkennen und zu behandeln galt. Sie diagnostiziert, indem sie die in
"Energiefeldern" vorhandenen Informationen "analysiert"; sie therapiert, indem sie Ungleichgewichte in solchen Feldern "balanciert". Erst mit diesem runderneuerten Selbstverständnis fand die Radionik Aufnahme in die westliche Esoterikbewegung, von der sie zuvor als technomanisches Imitat der konventionellen Apparatemedizin beargwöhnt und ausgegrenzt worden war.
Tansley selbst, vor allem aber sein Freund Malcolm Rae baute dazu das passende Instrumentarium,
das zum Prototyp einer neuen Gerätegeneration wurde; seither gibt es zwei zusätzliche Drehknöpfe, mit denen energetische "Über-" und "Unterfunktionen" ermittelt werden. Tansley ebenso wie Rae zogen übrigens das radiästhetische Pendel der Reibeplatte vor. Darüber hinaus arbeitete Rae nicht nur mit numerischen "Raten" - die er auf einen Skalenbereich von 0 bis 44 erweiterte -, sondern auch mit geometrischen Darstellungen, in der Überzeugung, dass sie mindestens
ebenso geeignet seien, den Radioniker in Resonanz mit den energetischen Besonderheiten seiner Patienten zu bringen.
Dabei wird nach einem Grundsatz verfahren, nach dem auch Homöopathen geeignete Heilmittel ermitteln und herstellen: Gleiches wird mit Gleichem behandelt - das Simile-Prinzip. Wie bereits erwähnt, hatte schon Abrams entdeckt, dass die "Werte" bzw. "Raten" für Malaria identisch sind mit denen des Medikaments, mit dem sie erfolgreich behandelt wird, mit
Chinin. Davon ausgehend erweiterte sich die Radionik zu einer "elektronischen Homöopathie" - und damit zu einer Vorgehensweise, von der im Abschnitt über das Heilen mit Fetischen bereits die Rede war. Um radionisch fernzubehandeln, wird nun nicht mehr nur unmittelbar "gesendet"; ebenso können Patienten mit Substanzen beliefert werden - zum Beispiel Fläschchen mit Alkohol- oder Kochsalzlösung, Globuli (Kügelchen aus Milchzucker), Edelsteine oder beliebigen anderen
Ausgangssubstanzen -, denen mit Hilfe des Geräts geeignete Raten "eingeprägt", "aufgeschwungen", "projiziert" worden sind. Homöopathika beliebiger Potenz, aber auch Bach-Blütenessenzen werden auf diese Weise radionisch hergestellt. Inzwischen ist "Elektronische Homöopathie" zu einem bedeutenden Betätigungsfeld von Radionikern geworden - und einer ihrer lukrativsten Einnahmequellen.
Die neueste Gerätegeneration, mit dem die Radionik ins
Computerzeitalter eintritt, nimmt dem Radioniker einen Großteil seiner bisherigen Arbeit ab. Schon 1986 stellte der amerikanische Physiker und Elektroingenieur Dr. Willard Frank ein computerunterstütztes Radionikgerät vor, den "SE-5 Intrinsic Data Field Analyzer", der das "Innere Datenfeld" (IDF) des Patienten wetgehend automatisiert "analysieren" und "balancieren" zu können scheint. Unter der Reibeplatte befinden sich
"Skalarantennen", die aus dem Datenfeld des Patienten Informationen aufnehmen. Die "Raten" werden nicht mehr einzeln eingestellt, sondern per Knopfdruck vom Computer abgerufen, der dafür über 14'000 gespeicherte Werte nutzt. Nicht minder bequem macht es "M.A.R.S. III" (Multiple Analytical Radionic System), eines von über drei Dutzend Geräten, die der englische Radioniker Bruce Copen (1923-1998) seit Mitte der vierziger Jahre entwickelt und mit Hilfe
seiner deutschen Repräsentanz in München, unter Leitung des Diplom-Ingenieurs Harald Rauer, auch in Deutschland zu weiter Verbreitung verholfen hat. Nachdem die "Probe" eines Patienten in einen Behälter auf der Geräteoberfläche getan wurde, "scannt" das Gerät es mittels darunter befindlicher Antennen selbsttätig, und Sekundenbruchteile später erscheint auf dem Monitor bereits eine mehr oder minder stattliche Liste von Bereichen auf der physischen und mehreren
feinstofflichen Ebenen (gewichtet von 1: materiell bis 10, in zunehmendem Abstand vom rein "materiellen" Bereich), und dem Grad der energetischen Über- oder Unterfunktion im jeweiligen Bereich, wobei Werte unter -6 bzw. über +6 als besorgniserregend und behandlungsbedürftig gelten. Auch das "Senden" übernimmt das Gerät anscheinend von alleine, nachdem entsprechende Raten und Behandlungszeiten eingegeben worden sind. Dabei können simultan mehrere Patienten ferntherapiert
werden, auch während der Radioniker gerade fernsieht, einkauft oder schlafen geht.
Die Rolle des Radionikers im therapeutischen Prozess wird dadurch noch nebulöser, als sie seit Abrams´ Tagen ohnehin schon war. Weder "sendet" M.A.R.S. III irgendwelche "Strahlen" und "Schwingungen", noch scheint der Radioniker - im Gegensatz zu Geistheilern anderer Provenienz - irgendeinen aktiven, von bewußter Intention begleiteten Beitrag leisten zu müssen. Aber auch das
Gerät selbst scheint entbehrlich. "Wozu brauchen Sie dieses Ding eigentlich noch?", wollte ich von Harald Rauer wissen, als ich ihm im Juni 2003 in seinen Münchner "Laboratorien" einen Besuch abstattete. "Könnten Sie sich nicht einfach vorstellen, wie Sie an den Knöpfen Ihres Apparats drehen und dabei Raten einstellen? Könnten Sie den stick auf der Reibeplatte, der Ihnen Treffer anzeigt, nicht einfach innerlich erspüren? Könnten Sie das ‚Schwingungsmuster' einer
Patientenprobe nicht dadurch ‚scannen', dass Sie sie einfach in die Hand nehmen, anstatt es in einen Probenbehälter zu stecken?" Rauer nickt: "Ja, das ginge durchaus, und manchmal gelingt mir das auch. Aber ich gehöre wohl zu einem Typ von Heilern, die den Schein von Technologieeinsatz brauchen, um an das eigene Potential heranzukommen und es in Aktion zu bringen." Zweitrangig scheint letztlich sogar, welche "Raten" gesendet werden: Copen-Radioniker etwa
"senden" nicht "Komplementär-Frequenzen", sondern einfach die in der Proben"analyse" ermittelten Werte selbst. Offenbar gehört der Eindruck der mathematischen Präzision zu den entscheidenden Motivationshilfen, ohne den zumindest der unter Radionikern vorherrschende Persönlichkeitstypus sich nicht zutraut, als Geistheiler zu agieren. Nach alledem dient der Radionikapparat bestenfalls als Konzentrationshilfe und Induktor. Wer oder was heilt dann aber, und wie?
Die gleichen Fragen wirft eine Gerätschaft auf, die neuerdings von der deutschen Radionikszene weithin als technisch ausgeklügeltste bestaunt wird; sie katapultiere ihre Tätigkeit "in völlig neue Dimensionen", wie man Fachleute ehrfurchtsvoll raunen hört. Genauso wird sie von ihrem Erfinder angepriesen, dem Heilpraktiker Peter von Buengner. Geschickt vermarktet der gebürtige Hamburger, Jahrgang 1958, von Altkirchen bei München aus über seine "M-TEC
Aktiengesellschaft" diese Apparatur namens quantec, in Anspielung auf "quantenphysikalische Prinzipien", gemäß derer er sie nach "jahrelangen Forschungen auf dem Gebiet der Biokommunikation entwickelt" haben will. (Auch Kleingeschriebenes kommt mitunter gernegroß daher.) Was Buengner in aller Bescheidenheit als das "zur Zeit wahrscheinlich modernste Radionik-Gerät weltweit" feilbietet, präsentiert sich auf den ersten Blick als eine Konstruktion von
beeindruckender Schlichtheit: Drei Rosenquarzkugeln, mit denen Unbedarfte eher ihren Weihnachtsbaum bestücken würden, werden von Streben in einem gleichschenkligen Dreieck zusammengehalten. An einer dieser Streben ist eine goldschimmernde Platine befestigt, die über ein Kabel Anschluss an einen Computer findet. Auf dessen Monitor wird dem Radioniker von "modernster Software" zunächst ein Adressfeld angeboten, in das er Name, Adresse und Geburtsdatum seines Klienten tippt. Nun öffnet
sich ein weiteres Fenster, auf dem ein "Behandlungsblatt" (Healing Sheet) angelegt wird. Nachdem ein eingebauter "Generator" das "Biofeld" der auf die Platine gelegten Probe - z.B. eines Fotos - "automatisch eingescannt" hat, gleicht er selbsttätig "die gefundenen Informationen nach dem Simile-Prinzip mit Mitteln ab, die aus abgespeicherten Datenbanken stammen”. (Die Standard-Software wird mit fünf Datenbanken ausgeliefert -
"Bach-Blüten", "Homöopathie", "ICD 10, "Mineral (Heilsteine)" und "Organpräparate" -, 145 weitere bietet Buengner zur Nachlieferung an.) (Wer die Mittelsuche nicht vollständig dem Computer überlassen will, dem lässt quantec immerhin die Freiheit, "nach eigener Einschätzung, konesiologischer Austestung oder homöopathischer Repertorisierung" aus den Datenbanken auszuwählen.) Sobald die gefundenen Mittel ins Behandlungsblatt übertragen worden sind, ermittelt quantec auf
einen Tastendruck hin automatisch, in welcher Potenzierung und Intensität sie dem Klienten zuzuführen sind. Den Rest erledigt "der Sendeassistent": "Einer der zentralen Vorteile von quantec", so eigenlobt Buengner, "ist die Möglichkeit, radionische Sendungen delegieren zu können. Hierzu muss nur einmalig eingestellt werden, von wann bis wann, wie oft pro Tag, und die Sendedauer festgelegt werden. Sind diese Einstellungen vorgenommen, übernimmt quantec vollautomatisch
die Ausführung. Die Standardeinstellung ist, alle vier Stunden zehn Sekunden radionisch zu senden." Umso mehr verblüfft, dass Buengner trotzdem nicht das Gerät, sondern den Benutzer für den eigentlichen Heiler hält: "Quantec kann nicht aus sich selbst heraus wirken, sondern lediglich als Konzentrationshilfe der Ausrichtung des Bewusstseins" - woran die vollautomatische Prozedur, bei der ein Anwender nur noch die Platine zu bestücken, Personalien einzutippen und ein paarmal die Enter-Taste zu drücken braucht, Zweifel aufkommen lassen. Dass mit quantec irgendwelche Effekte auf Distanz zu erzielen sind, versucht Buengner im Internet mit Kurzberichten über wissenschaftliche Untersuchungen - teils Psychokinese-Experimente, teils Fernheilstudien - zu beweisen, die den peinlichen Nachteil haben, dass an keiner von ihnen irgendein Radioniker beteiligt war. Christliche Glaubensheiler mag dies in ihrem Eindruck bestärken, dass eine demütige Fürbitte mit gefalteten Händen eine hyperdimensionierte quantec-Sitzung
allenfalls im Preis, nicht aber in der Wirkung unterbietet.
Die Szene selbst wächst ungeachtet aller offenen Fragen stetig, ausgehend von England. Dort fanden im Februar 1960 elf Radioniker, einschließlich des Ehepaars De la Warr, zur "Radionic Association" zusammen. Bis Mitte der neunziger Jahre zählte sie bereits über 500 Mitglieder. Inzwischen hat sie den alternativen Gesundheitsmarkt um eine neue Profession bereichert: den "Radionic Practicioner", der nach
dreijähriger Ausbildung lizenziert wird. Viele deutsche Radioniker erwarben dort ihr Diplom. Organisiert haben sie sich in der 1992 gegründeten "Deutschen Radionischen Gesellschaft" (DRG) im niedersächsischen Nienburg (Vorsitzender: Claudio Romanazzi) sowie im "Arbeitskreis Radionik und Schwingungsmedizin" in Bad Schwartau (Vorsitzender: Winfried Veldung). In Deutschland dürften gegenwärtig rund 1200 Geräte im Einsatz sein, wie Harald Rauer schätzt - "die Käufer sind
zu 99 Prozent Ärzte und Heilpraktiker".
Quellenangaben und weitere Literaturhinweise in Fernheilen, Band 1.
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