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Wiesendanger: Auf kurz oder lang - Aphorismen

Dr. Harald Wiesendanger

Auf kurz oder lang

Aphorismen, Anekdoten,
Analysen, Anarchismen
über Gott und die Welt.

Lea Verlag: Schönbrunn 2002
132 Seiten
Hardcover, Leinen

LogoKurz Geistiges Heilen Geistheiler ua

Kurz gesagt

“Wer schwarzmalt,
versucht dadurch vielleicht nur,
das Weiße, das echte, reine,
zum Vorschein zu bringen.”

Ziemlich bissig
“Mit über zwei Dutzend Sachbüchern hat sich Harald Wiesendanger als Fachmann für Esoterik und Grenzwissenschaften profiliert. Dass den promovierten Philosophen und Psychologen mehr umtreibt als Themen wie Geistiges Heilen und Reinkarnation, zeigt sein neues Werk, mit dem er die Literaturgattung wechselt: zum Aphorismus, zur Satire, zum Kommentar hin – und damit zu vorsätzlich Pointiertem, Unausgewogenem, Frechem. Ebenso distanziert, wie er mit esoterischem Stoff umgeht, betrachtet er hier Themen wie Liebe und Ehe, Kinder und Erziehung; Wissenschaft und Kultur, Moral und Charakter; Gesellschaft und Medien; Gott und Kirche; Leben, Tod und Sinn. ”Warum bin ich nicht längst zahnlos, wo ich doch so bissig bin? Weil die Dinge so leicht nachgeben, sobald ich auf ihnen herumkaue.”

Rezension in WENDEZEIT Sep/Okt 2002

LogoInhalt Geistiges Heilen Geistheiler ua

Inhaltsangabe

Liebe und Ehe  - 
    Amor und die Folgen


Nachwuchs und Erziehung  - 
    Kinder, Kinder


Charaktersachen  - 
    Persönlich genommen


Soziales und Kultur  - 
    In bester Gesellschaft


Forschung und Wissenschaft  - 
    Der heiligen Kuh am Schwanz gezogen


Esoterik  - 
   
Im Drüben gefischt

Glaube und Kirche  -
    Um Gottes Willen


Sterben und Tod  - 
    Letzte Fragen


Leben und Sinn  - 
    Mehr nicht?

 

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Leseprobe

 aus Kap. 6  Esoterik
Im Drüben gefischt

Das beliebteste Sport-Event der Esoterikszene: die Tour de Trance. Ihre Lieblingsbeschäftigung: im Drüben fischen.

“Zufall ist, was dir zufällt”, raunen Esoteriker ahnungsvoll. Daß er oft zu Fall bringt, verkennen sie.

Zum Verlockendsten an Astralreisen gehört, daß sie das Sexualleben um eine spannende Variante bereichern. Konsequent praktiziert, machen sie jegliche Empfängnisverhütung überflüssig.

Mit allem Leben wähnte er sich in Liebe vereint - doch dann war die nächste Schnake im Anflug.

“Raum und Zeit sind unwirklich”, sprach der Guru - und hastete aus dem Saal.

Die Idee der “Akasha-Chronik” verheißt ein ätherisches Medium, in dem alles, was irgendwer jemals gesagt und getan, gedacht und gefühlt hat, niedergeschrieben und auf ewig gespeichert wird, für Hellsichtige nachlesbar. Eben daher rührt ihre ungeheure Faszination: Sie befriedigt unsere Sehnsucht, nicht spurlos zu verschwinden. Sie macht uns alle gleichermaßen wichtig - auch noch mit dem windigsten Hirnfurz, dem lächerlichsten Herzschmerz.
Der Gott, der diese Chronik Zeile für Zeile gelesen haben muß, um seiner Allwissenheit gerecht zu werden - oder sie nicht mehr zu lesen braucht, weil ihm die Inhalte eh schon vollständig bekannt sind -, verdient unser aufrichtiges Mitgefühl.

Für viele Anhänger von Gurus eignet sich vorzüglich das Mantra: “Om anvasfir annarshi binh”.

Wie in einer außersinnlichen Vision erscheinen mir die Hallenböden bei Esoterikveranstaltungen überzogen mit einem Gewirr schillernder Linien. Es sind die Kriechspuren, auf denen den Gurus hinterhergeschleimt worden ist.

Wer bestreitet, daß sich die globale Finanzwelt auch ohne Scientology längst im Griff der Esoterik befindet, kennt die Chart-Technik noch nicht. Was diese linealschwingende Börsenastrologie am Leben hält, ist nichts anderes als der Mechanismus der self-fulfilling prophecy, der Prophezeiung, die sich selbst erfüllt. Chart-Technik funktioniert, solange genügend Geldsäcke im Glauben agieren, sie tue es.

“Die Wahrheit ist einfach”, lehrte Gautama Buddha. Sie zu finden, ist allerdings eine überaus mühselige Angelegenheit.

Wieso kommt mir die universelle Liebe, von der sich Esoteriker beseelt wähnen, fast immer unecht, aufgesetzt, ja heuchlerisch vor? Wem alles gleich gültig ist, wird es gleichgültig. Bei vielen, die mit Vorliebe die ganze Welt umarmen, reicht die Spannweite noch nicht einmal aus, um den Allernächsten in Liebe festzuhalten.

Feng Shui ist, wenn das Bett auf dem Schrank steht.

Manche Verblendung erreicht erst in der “Erleuchtung” ihren Höhepunkt.

So mancher Esoterikguru verdankt seine Anhängerschaft offenkundig der wohlwollenden Vermutung, daß einer unmöglich so flach fühlen und wirr denken kann, wie er spricht.

Daß der Verlust des Körpers nicht zwangsläufig einen Zugewinn an Geist nach sich zieht, legen die haarsträubenden Banalitäten nahe, die beim Gläserrücken und automatischen Schreiben, beim Channelling und der instrumentellen Transkommunikation zum Vorschein kommen. Eher deuten sie darauf hin, daß Geisterwelt und Geistige Welt mindestens so weit voneinander entfernt liegen wie Sonderschule und Hochschule. Warum auch sollte ein Depp zum Genius werden, bloß weil er aus der Haut gefahren ist?

Gleichgültig, wieviele Punkte du auf ein Blatt Papier malst; gleichgültig auch, wie du sie anordnest - es wird dir immer gelingen, eine Linie zu ziehen, die sie alle miteinander verbindet. Genauso verhält es sich mit “karmischen Zusammenhängen” zwischen Lebensereignissen. Wobei sich hier wie dort mehr als nur eine Linie zeichnen läßt.

Die Beschränktheiten der Nanotechnologie lassen ahnen, wieviel mehr als wir ein entleibter Totengeist von Physik verstehen müßte, um ein Stück Raum in unserer Umgebung Atom für Atom derart manipulieren zu können, daß es einem Wesen mit unseren besonderen Sinnesorganen überhaupt als Geist erscheinen kann - obendrein als einer, der einem Verstorbenen ähnelt. Merkwürdigerweise kommen Erscheinungen toter Kernphysiker aber keineswegs häufiger vor als Erscheinungen all der verblichenen Müllers und Meiers, die von Atomen höchstens wußten, daß sie ziemlich klein sind. Insofern Erscheinungen immer auch mikrophysikalische Hervorbringungen sind, würde ich sie deshalb eher einer ungeheuer überlegenen außerirdischen Intelligenz zutrauen, die mit uns spielt.

Immer lauter rufen Esoteriker nach einer “Neuen Physik”, die jene Phänomene einschließt, auf die sie ihre Weltanschauungen gründen. Solche Rufe sind entweder rührend naiv oder scheinheilig. Läge eines Tages tatsächlich eine “Unified Physics of Psi” vor, so gäbe es auf der Welt vielleicht nur ein paar Dutzend mathematisch und physikalisch hochgeschulte Experten, die sie noch nachvollziehen können. Die Gurus der Esoterikszene zählen mit Sicherheit nicht dazu.

Ein griechischer Mythos kündet von dem riesenhaften Unhold und Wegelagerer Prokrustes, der Wanderer gefangennahm und ihre Körper so lange streckte, bis sie in sein Bett paßten. Spielt bei vermeintlichen “Erfolgen” der Astrologie nicht auch ein Prokrustes-Effekt mit?: Der Klient wird so lange zurechtgebogen, bis er zur Deutung paßt. (...) Welche schüchterne Juli-Geburt wächst nicht gleich um mehrere Zentimeter, wenn ihr ein Astro-Pythia wie Wolfgang Döbereiner versichert: “Für eine Frau gehört es zu den aufregendsten Erlebnissen, von einem Krebsmann umworben zu werden ...”

Daß Wiedergeburtslehren einem orientierungslosen Zeitgeist vielfach als billiger Religionsersatz dienen, wertet sie selbst noch lange nicht zur bloßen Religion ab: zu einem System von Überzeugungen, die wir allenfalls inbrünstig und vertrauensvoll glauben, aber nicht zum Erkenntnisziel einer auf Erfahrung ausgerichteten, kritisch-rationalen Forschung machen können. (...) Von den seelischen, gesellschaftlichen und kulturellen Funktionen einer Idee auf ihren Wahrheitsgehalt haben Psychologen und Sozialwissenschaftler immer schon zu kurz geschlossen.

Wer die “okkulte Welle” unter Kindern und Jugendlichen verstehen will, muß nicht zuletzt den gesellschaftlichen Gruppen nachspüren, die ein Interesse daran haben, sie “überschwappen”, über uns “hereinbrechen” zu sehen. Die Presse wirbt um Leser, Rundfunk und Fernsehen um Einschaltquoten, die Kirche um Gläubige, Politiker um Wähler, psychosoziale Beratungsstellen um Förderhilfen, Therapeuten um Patienten, Wissenschaftler um Beachtung und Forschungsaufträge. Ihnen allen kommt eine Immunschwäche fürs Okkulte gerade recht, deren Erreger, Symptome und Infektionswege erforscht, deren Opfer therapiert, deren Risikogruppen mit Präventivmaßnahmen überzogen, mit Aufklärung und Behandlung eingedeckt und notfalls isoliert werden müssen - auf höchster Dringlichkeitsstufe, wie bei anderen Volksseuchen auch.

Seit eh und je neigen wir dazu, das Unbekannte zu personifizieren. Der Blitz als Donnerkeil. Der Albtraum als Werk eines Albs. Das Erdbeben als Grollen Gaias. Der Infekt als Heimsuchung durch einen Dämon. Nicht anders verfahren esoterisch Gesinnte heutzutage mit Psi-Phänomenen: Hinter Spukvorgängen steckt ein Poltergeist, hinter historischem Wissen unklarer Herkunft eine wiedergeborene Seele, hinter Persönlichkeitsveränderungen mit außersinnlichen und psychokinetischen Anteilen eine Besessenheit; hinter Uhren, die just im Todesmoment stehenbleiben, das Abmelden des Verstorbenen; hinter einer Erscheinung der, dessen Aussehen sie ähnelt. Doch lehrt die Wissenschaftsgeschichte nicht, daß Phänomene um so unpersönlicher, sozusagen seelenloser werden, je besser sie verstanden werden? Das Universum ist vielleicht keine gigantische Maschine, wohl aber ein durch und durch physikalisches Etwas, in dem alles, was ist und geschieht, letztlich geistlosen Gesetzmäßigkeiten folgt.

Was angebliche Levitationen angeht, so traue ich meinem Urteilsvermögen erst, nachdem ich endlich das Geheimnis der Schwebenden Jungfrau im Dorfzirkus gelüftet habe.

Ehe du dir von einem Wahrsager zeigen läßt, wie du reich werden kannst, solltest du herausfinden, wie oft er schon einen Sechser im Lotto gelandet hat.

Skeptizismus, auch gegenüber Psi-Phänomenen, ist eine zutiefst widersinnige Geisteshaltung. Wer alles in Zweifel zieht, darf vor dem eigenen Zweifel nicht halt machen.

Außersinnlich wahrnehmen zu können, gilt in esoterischen Kreisen als überaus erstrebenswert. Um Psi-Potentiale, die angeblich in jedem von uns stecken, zu wecken und zu entfalten, werden allerlei Kurse angeboten. Was wäre, wenn diese Kurse tatsächlich zum in Aussicht gestellten Ziel führten: wenn aus uns dadurch perfekte ASW´ler würden?
Hellsichtig würden wir Zeugen der gräßlichsten Grausamkeiten, wann und wo immer sie sich zutragen. Telepathisch würden wir überschwemmt von all dem Haß, dem Neid, der Verachtung, der Gleichgültigkeit, dem Ekel, der Geringschätzung, der Abneigung, die unsere Mitmenschen, auch unsere Nächsten, aufeinander richten, und auch auf uns selbst. Präkognitiv sähen wir voraus, was an Mißgeschicken, an Enttäuschungen, an Übeln, an Schmerzen, an Katastrophen, an Leid auf uns zukommt. Wollen wir das wirklich? Könnten wir es ertragen? Würde Psi von heute auf morgen Gemeingut der Menschheit - einen Tag später würden Milliarden Menschen im Wahnsinn enden.
“Universelles Psi” scheint ein verlockender Aspekt eines globalen Bewußtseins, das alle Menschen in einem Neuen Zeitalter miteinander verbindet - und zu allumfassender Liebe befähigt, die unmittelbar von Geist zu Geist dringt. In Wahrheit wäre es ihr Ende.

Wäre “Geistheilung” der Name einer Pille, die in den Forschungslabors von BASF, Bayer oder Hoechst entwickelt worden wäre - sie hätte längst die Zulassung. (Nach Geistiges Heilen für eine neue Zeit, S. 213)

Was wäre, wenn die Zigarette eine Erfindung von Geistheilern wäre - wenn Handaufleger sie in der “Einsicht” eingeführt hätten, daß Nikotin die spirituellen Energien in kranken Körpern besser fließen läßt und verstopfte Chakras reinigt? Vermutlich hätte bereits die allererste klinische Studie, die auf gesundheitsschädliche Auswirkungen des Tabakrauchs hindeutete, dem Gesetzgeber ausgereicht, die Herstellung und Verbreitung von Glimmstengeln unter Strafe zu stellen. Entlarvt ein solches Gedankenspiel nicht die Doppelmoral, die uneingestanden mitspielt, wenn aufgelegte Hände als “Gefahr für die Volksgesundheit” gebrandmarkt werden? Jede Schachtel Tabakwaren ist gefährlicher, als es die geballte Kraft von tausend Reiki-Meistern jemals sein kann. (Das Große Buch vom Geistigen Heilen, S. 312)

Am allermeisten mangelt es der Humanmedizin - an Humanität. Der Nachfrageboom, den Geistheiler seit längerem erleben, rührt weniger von erwiesenen therapeutischen Leistungen her als von dem Versprechen, diese Lücke zu füllen.

Sympathisanten Geistigen Heilens sollten vor lauter Freude darüber, daß sich ihm immer mehr praktizierende Ärzte zu öffnen beginnen, nicht versäumen, die Motive zu hinterfragen. Nicht jeder Arzt, der plötzlich mit Heilern kollaboriert oder sich gar selber handauflegend an seiner Kundschaft zu schaffen macht, tut dies aus innigster Überzeugung, wie wertvoll und nützlich diese Heilweise doch ist. Gerade dadurch, daß er sich unter seinesgleichen exponiert und öffentliches Aufsehen erregt, befriedigt er Eitelkeiten. (“Ich, der einsame Vorkämpfer!”) Und selbstverständlich spielt oft auch ein handfestes finanzielles Kalkül mit: Auf dem umkämpften Gesundheitsmarkt verschafft sich einen Wettbewerbsvorteil, wer sich dem Nachfragedruck der wundersuchenden Patienten beugt und sein Behandlungsrepertoire um “geistige” Praktiken ergänzt.
Dürfen Patienten die letztlichen Motive ihrer Ärzte nicht einerlei sein, Hauptsache, sie werden endlich auch “spirituell” therapiert? Durchaus nicht. Denn solche Motive verführen Ärzte dazu, Hilfesuchende aus Geschäftsinteresse mit heilerischem Mittelmaß zu ködern, statt verläßliche Qualitätsnachweise und die Entwicklung der dazu nötigen Meßverfahren abzuwarten.

Seit esoterisch gesinnte Ärzte an die Öffentlichkeit drängen, wissen wir, daß es seinen guten Grund hat, warum gerade wir uns ausgerechnet diese Krankheit zuziehen. Nun wissen wir, daß sie eigentlich genau zum richtigen Zeitpunkt ausbrach. Wir wissen, daß wir sie brauchen, um auf unserem spirituellen Weg den nächsten Entwicklungsschritt zu tun, und daß sie genauso lange dauern wird, wie wir dafür benötigen. Nun verstehe ich endlich, warum diese Ärzte lieber publizieren als praktizieren. Es gibt für sie nichts mehr zu behandeln.

Einer Geistheilung bedarf zuallererst die Heilerszene selbst.

Esoterik: eine Anhäufung von Kurzschlüssen aus unsicheren Phänomenen auf unerschütterliche Lebenslügen.

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