Fragwürdiger therapeutischer Wert Einmal angenommen, Progredierte wären imstande, zuverlässig und präzise vorwegzunehmen, was aus ihnen wird. Spräche das nicht eher dagegen, einen Menschen jemals »vorauszuführen«?
Unisono tun die Anwender so, als stünde der therapeutische Wert dieses Spektakels außer Frage. Rosige Aussichten scheinen garantiert. Chronisch Zukunftsängstliche nehmen vorweg, daß alles halb so schlimm kommen wird. In Zwangslagen, die schier ausweglos scheinen, soll der Blick voraus zuversichtlich stimmen. Wer über kürzliche Verluste und Trennungen nicht hinwegzukommen meint, »sieht« sich Jahre
später frei von Schmerz, erfüllt von neuen Bindungen und Aufgaben; nun »weiß« er schon, daß er es, schaffen wird - und schafft es um so besser. Den verstorbenen Eltern, denen gegenüber noch unbewältigte Schuld- und Haßgefühle, Verletzungen und Verbitterungen drücken, kann man nun schon einmal ausflugsweise im Jenseits begegnen - und jene Aussöhnung vorwegnehmen, zu der es eh bald kommen wird. Der Selbstmordgefährdete »erlebt«, daß sich kein wirklicher Schlußstrich ziehen läßt, das Leben
danach in neuen Leibern weitergeht, mit denselben unbewältigten Aufgaben, vor denen er sich durch den Suizid drücken will. Einer panischen Angst vor dem Sterben sollen »Vorausführungen« die »wichtige Erfahrung« entgegensetzen, »daß der Tod etwas sehr Angenehmes, Erleichterndes ist« (Tepperwein). Wer an der Ungerechtigkeit der Welt verzweifelt, mit seinem Schicksal hadert und sein Leben verpfuscht findet, sieht »progrediert«, wie reichlich ihn sein nächstes Leben für mancherlei Entbehrungen
entschädigt. Wen Glaubenskrisen plagen, dem wird neues Gottvertrauen durch tiefe, unmittelbare religiöse Erfahrungen versprochen. Wer etwa bei Gruppenrückführungen des umstrittenen christlichen »Meditationslehrers« Pastor Johannes Böckel mitmachen will, »der muß auch bereit sein, mit mir in die Zukunft zu gehen, und zwar bis zu seinem Todeserlebnis. Er wird dann sehen: Wenn die Kräfte mich verlassen, dann ist da ... einVertrauensuntergrund ... der mich trägt und auffängt. Man kann diesen
Urgrund auch Gott nennen .. « Was »Vorausführungen« als psychotherapeutisches Hilfsmittel anlangt, so können sich esoterische Zeitreiseführer anscheinend zumindest auf eine anerkannte Autorität berufen: den amerikanischen Psychotherapeuten Milton H. Erickson (1901-1980) aus Phoenix/Arizona, der mit einer speziellen Form der Hypnosetherapie schulbildend wurde. Zu Ericksons bekanntesten deutschen Schülern, die Klienten
gelegentlich »vorausführen«, gehört der Münchener Diplom-Psychologe, Gesprächs- und Hypnotherapeut Burkhard Peter. (Peter leitet das »Institut für Integrierte Therapie« in München und ist Vorsitzender der »Milton Erickson Gesellschaft für klinische Hypnose«.) So berichtet Peter von einem 38jährigen Arbeitspsychologen, einem »sehr intelligenten und empfindungsfähigen« Mann, der ihn in tiefer Depression aufgesucht habe: »Er haderte mit seiner Ehe, mit seinen Kindern und seinem Beruf«, gefangen
in einem »schier endlosen Zirkel von ‚Wenn dies, dann ... ‚«. Peter entschloß sich zu einer »Progression«: »So forderte ich ihn in Trance auf ... in die Zukunft zu gehen, Jahr um Jahr weiter, und erst an einem Punkt anzuhalten, den ihm sein Unbewußtes zeigen werde. Dieser Punkt war ein sanfter Bergsattel, auf dem er sich wiederfand als älterer Mann. Auf seinen Stock gestützt und geschützt durch einen weiten grünen
Umhang, blickte er ins Tal, wo junge Menschen ihrer täglichen Arbeit nachgingen, gehetzt und unzufrieden zum Teil, aber auch zum Teil zufrieden, bemüht und ernsthaft. Sehr lange, bedächtig und sorgsam betrachtete er das Treiben aus der Entfernung seines Alters und von seinem Berg herab, so daß ich mich selbst in Schwierigkeiten sah, seine abgeklärte Gelassenheit nachzuempfinden; aber auch meine Unfähigkeit, bedingt durch mein noch junges Alter, konnte er mit gelassenem Wohlwollen betrachten
und mir mitteilen, daß es für viele Menschen normal sei, durch eine Phase der Ruhelosigkeit, der Konflikte und Sorgen zu gehen, um daraus hervorgehen zu können mit Erfahrung und Sinn für das Wesentliche des menschlichen Daseins. Aus seiner Zukunft und der Trance zurückgekehrt, war er sehr verändert, sehr ernsthaft, gefaßt und beinahe heiter. Seine Situation veränderte er in der Folgezeit nur in sehr kleinen Bereichen; er
wurde zufriedener und sowohl in seiner Ehe wie auch in seinem Beruf selbstbewußter, ohne daß großartige oder dramatische Veränderungen stattgefunden hätten.« Das Hauptproblem solcher »Vorausführungen« in ein rosiges Übermorgen läßt Peter freilich unerwähnt: Therapeutisch hilfreich sind sie vor allem in dem Maße, in dem der Klient glaubt, sie würden ihm Ausblicke auf etwas verschaffen, was
sein wird - oder sein kann, sofern er seinen Teil dazu beiträgt. Übersehen, verdrängen muß der Klient dabei, daß ihm mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit Unfall, Krankheit und Tod Verluste und Fehlschläge bevorstehen. Soweit »Progressionen« überhaupt Bevorstehendes offenbaren, zeigen sie zwangsläufig auch dessen Schattenseiten. Solche Vorführungen sind keine Therapie - schlimmstenfalls
erfordern sie überhaupt erst eine. »Ich persönlich würde wohl kaum je eine Vorausführung durchführen«, selbst wenn sie möglich wäre, sperrt sich der Schweizer Reinkarnationstherapeut Bruno Meier aus Herznach. Denn »solchem Wissen wäre praktisch kein Mensch gewachsen, es würde sein Leben enorm komplizieren und belasten«. Deshalb sei »eine Vorausführung nicht zu verantworten«. Mit Voraussagen drohender Krankheiten, Unfälle, Verluste und Sterbetermine haben schon viele Wahrsager und Astrologen
gutgläubige Kunden in tiefe Verzweiflung, Resignation, Erfüllungszwänge, ja Selbstmord getrieben (siehe Der Streit ums Horoskop); wieviel ernster werden böse Vorzeichen genommen, wenn sie gar aus den Tiefen der eigenen Seele kommen? Wäre uns vorauszusehen bestimmt, was aus uns wird - das Schicksal würde es schwerlich davon abhängig machen, ob wir bereit sind, zu horrenden Gebühren Zeitreisen bei professionellen »Führern« zu buchen.
Anmerkungen und Quellennachweise finden Sie in H. Wiesendanger: Wiedergeburt – Herausforderung für das westliche Denken, S. 228-244. |