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| | 1 Das neurophysiologische Modell Seine Kernthese: Veränderte Bewußtseinszustände und die in ihnen auftretenden "transpersonalen" Erfahrungen sind nichts weiter als Epiphänomene (Begleiterscheinungen) von Gehirnprozessen und auf diese vermutlich vollständig zurückfiihrbar. Anhaltspunkte dafür kommen aus der
EEG-Forschung, der elektrischen Neurostimulation, der Psychopharmakologie und der Neuropathologie. (a) EEG-Forschung Ende der zwanziger Jahre entdeckte der deutsche Psychiater Hans Berger, daß an der menschlichen Kopfhaut ständig elektrische Spannungsschwankungen auftreten, die Rückschlüsse auf die
Hirntätigkeit erlauben; sie sind etwa hundertmal kleiner als bei der Herztätigkeit. Um sie zu messen, werden an verschiedenen Punkten der Kopfhaut feuchte Silberplättchen, die durch Kabel mit dem Registriergerät (Elektroenzephalograph) verbunden sind, mit Gummiband oder Klebstoff befestigt. Der Spannungsunterschied zwischen zwei Elektroden wird elektronisch verstärkt und mit Hilfe einer beweglichen Schreibfeder als Kurvenzug auf Registrierpapier aufgezeichnet. So entsteht ein sogenanntes
Elektroenzephalogramm (EEG). Ein modernes EEG-Gerät registriert meist 8 bis 16 EEG-Kurven von verschiedenen Punkten des Kopfes gleichzeitig. Das EEG stellt ein Gemisch verschiedener "Wellen" dar, deren Form für unterschiedliche Bewußtseinszustände charakteristisch ist. Die Wellentypen werden üblicherweise nach der Häufigkeit des Auftretens pro Sekunde (Frequenz) unterschieden: |
| | | Delta-Wellen (unter 4 pro Sekunde) treten im Tiefschlaf oder bei schweren Störungen der Hirnfunktion auf, z.B. bei Bewußtlosigkeit. Theta-Wellen (4 bis 7,5 pro Sekunde) finden sich besonders beim "Dösen" und Einschlafen. Auch in tieferer Entspannung und bei gewissen
veränderten Bewußtseinszuständen, z.B. bei Meditation, treten Theta-Wellen gehäuft auf. Alpha-Wellen (8 bis 12 pro Sekunde), die durch ihre Regelmäßigkeit auffallen, sind charakteristisch für den entspannten Wachzustand, besonders ausgeprägt bei geschlossenen Augen. Beta-Wellen (12,5 bis 40 pro Sekunde) treten besonders bei offenen Augen und bei psychischer Anspannung auf, während mentaler oder körperlicher Aktivität. Die verschiedenen EEG-Rhythmen werden vermutlich von tieferen Hirnzentren ausgelöst, z.B. der Alpha-Rhythmus vom Thalamus. Diese Zentren bilden den
"Taktgeber": In rhythmischen Intervallen senden sie "Salven" von Aktionspotentialen in die Hirnrinde (Kortex). Die kortikalen Neuronen antworten mit Schwankungen ihres Membranpotentials; diese Potentialschwankungen, die bei vielen hunderttausend Zellen gleichzeitig ablaufen, addieren sich und bilden das EEG. (b) Elektrische Neurostimulation Durch elektrische Reizung bestimmter Hirnareale ist es möglich, "transpersonale" Erlebnisse künstlich auszulösen. So traten bei Versuchspersonen z.B. déjà-vu-Erlebnisse und außerkörperliche Erfahrungen auf, verbunden mit Gefühlen der Glückseligkeit, als der rechte Schläfenlappen elektrostimuliert wurde. (c)
Psychopharmakologie Durch halluzinogene Substanzen wie Lysergsäurediäthylamid und Ketamin lassen sich "transpersonale" Erlebnisse künstlich auslösen. (d) Neuropathologie Krankhafte Veränderungen bzw. Schädigungen bestimmter
Hirnstrukturen und -funktionen gehen mit charakteristisch veränderten Bewußtseinszuständen einher. So treten z.B. bei Patienten mit Temporallappenepilepsie ausgeprägte Wahnvorstellungen auf - sogar zwischen den Anfällen -, die "transpersonalen" Erlebnissen ähneln. (Bei dieser Form der Epilepsie wird der Rhythmus der elektrischen Aktivität in den Temporallappen des Gehirns durch abnorme und starke Entladungen unterbrochen.) Ein psychologisches Modell Kernthese: Veränderte Bewußtseinszustände rühren von einer Desorganisation geistiger Strakturen undFunktionen her. "Transpersonale" Erlebnisse sind
Symptome solcher abnormer Veränderungen. In der kognitiven Psychologie setzt sich mehr und mehr ein theoretischer Ansatz durch, der "den" Geist nicht als homogenes Ganzes auffaßt, sondern als eine hierarchische Anordnung von Subsystemen mit unterschiedlichen Funktionen, die wechselseitig aufeinander einwirken, analog den verschiedenen Abteilungen eines Betriebs oder einer Behörde. Zahlreiche Modelle innerhalb dieses Ansatzes unterscheiden sich hinsichtlich der Anzahl der vermuteten Subsysteme, deren Bezeichnungen und Funktionszuordnungen. Ein verbreitetes Modell stellt den Geist als System von neun Teilsystemen dar: |
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Über das Subsystem der Exterozeptoren – Augen, Ohren, Nase und die übrigen bekannten Sinnesorgane - werden Informationen fiber die Außenwelt aufgenommen. "Interozeptoren" sind das Netzwerk von Rezeptoren, das unseren Körper durchzieht und registriert, was in unserem Inneren vorgeht. -
Diese Sinnesdaten aus unserer Außen- und Innenwelt durchlaufen gewöhnlich das Subsystem der Primärverarbeitung (input processing): eine Gesamtheit von automatischen und weitgehend unbewußten Prozessen. die nahezu augenblicklich die Beschaffenheit der eingehenden Sinnesdaten erfassen, diejenigen identifizieren, die wir für wichtig zu halten gelernt haben, und diese zur Bewußtheit bringen, während alle übrigen Merkmale keine Beachtung mehr finden. Diese Primärverarbeitung stützt
sich stark auf bestimmte Erinnerungen (Gedächtnis), die sozusagen ein "Lagerhaus" von Auswahlkriterien bilden. Die Bewußtheit ist gewissermaßen "das Gespenst in der Maschine": jener Teil von uns, der Informationen von allen übrigen Subsystemen aufnimmt und sich "vergegenwärtigt". "Reine" Bewußtheit erfahren wir kaum je; gewöhnlich ist sie
gerichtet auf bestimmte geistige Strukturen und vermischt mit allen möglichen Aktivitäten dieser Strukturen. Ist uns eine bestimmte Situation bewußt geworden, so erinnern wir uns an Informationen. die für sie bedeutsam sind (Subsystem Gedächtnis), schätzen sie ein, treffen in bezug auf sie einen Entschluß (Subsystem Wertung und Entscheidungsfindung). Dann handeln wir gegebenenfalls, indem wir über unser Muskelsystem eine motorische Leistung vollziehen, um die
Außenwelt oder unseren eigenen Körper zu beeinflussen. (Über Extero- und Interozeptoren erhalten wir Rückmeldungen über den Erfolg.) Gelegentlich werden auch die besonderen Empfindungen und Gefühle aus unserem emotionalen Subsystem bewußt. Daneben üben noch drei weitere, weniger offensichtliche Subsysteme einen erheblichen Einfluß darauf aus, was wir wahrnehmen, denken und tun. Das Identitätsgefühl ist die Gesamtheit unserer Vorstellungen darüber, welche Art Person wir sind,
wofür wir eintreten, wie wir uns anderen gegenüber gerne darstellen usw. (Ich reagiere auf eine Situation nicht einfach mit der Überlegung, wie sich ein bestimmtes Ziel am besten erreichen läßt, sondern auch mit der weiteren Überlegung, wie ich dieses Ziel erreichen und zugleich meine Mitmenschen davon überzeugen kann, daß ich tapfer, hilfsbereit, sachkundig etc. bin.) Das Subsystem der raumzeitlichen Empfindung gleicht einer inneren Landkarte, auf der wir permanent unsere
Position bestimmen ("Jetzt befinde ich mich an diesem und jenem Punkt dieses Planeten, und was ich wahrnehme, geschieht in der Gegenwart, die sich ganz spezifisch bestimmen läßt, nämlich als zehn Uhr vormittags an einem bestimmten Tag.") Im Subsystem des Unbewußten laufen all jene Prozesse ab, deren Bedeutung und Vorhandensein uns gewöhnlich nicht bewußt wird, sondern die wir nur aus Inkonsequenzen in unserem Handeln erschließen können - oder aus den Wirkungen, die es auf
andere Subsysteme ausübt (z.B. aus heftigen Emotionen, die es auslöst, oder aus Verzerrungen der primären Verarbeitung). Veränderte Bewußtseinszustände treten nach diesem Modell auf, wenn die Aktivität einzelner Subsysteme gedämpft, gesteigert oder vorübergehend ganz außer Kraft gesetzt wird. Im Schlaf beispielsweise werden das motorische und sensorische System fast zum Stillstand gebracht, ebenso das Planungssystem,
während das Unbewußte stimuliert wird. In hypnotischer Trance werden die Subsyteme Bewertung/Entscheidung und das Gedächtnis gedämpft, das emotionale Subsystem kann angeregt werden. Im meditativen Zustand setzen sensorische und kognitive Mechanismen weitgehend aus, Identitätsgefühl und Zeit-Raum-Sinn gehen verloren. "Besessenheit" wird als Störung des Ich-Subsystems verstanden. Ein parapsychologisches Modell Seine Kernthese: In veränderten Bewußtseinszuständen werden kognitive Prozesse behindert, die außersinnliche Wahrnehmungen und andere Psi-Leistungen gewöhnlich
blockieren, zumindest aber erschweren. Das oben vorgestellte Modell hat der amerikanische Psychologe Charles Tart noch um ein zehntes Subsystem erweitert: Er nennt es "latente Funktionen", womit er "psychische Potentiale" meint, "die wir in den Jahren des Heranwachsens in unserer Kultur nicht entwickelt haben, die von unserer Kultur vielleicht sogar
stark unterdrückt wurden, die aber doch potentiell zugänglich sind". Dazu zählt er "Psi-Potentiale", darunter die Fähigkeit zu außersinnlichen Wahrnehmungen. Daß solche Wahrnehmungen vorkommen, steht für Tart in Anbetracht der Forschungslage außer Frage. Folglich müsse es einen "Psi-Rezeptor" geben, "irgendeinen Prozeß oder eine Gesamtheit von Prozessen, welche(r) die ankommenden Psi-Informationen in eine Form bringt, die sich zur Verarbeitung im
Geist oder im Gehirn eignet." Im normalen Wachzustand könnte der Psi-Informationsfluß, der außersinnlichen Wahrnehmungen zugrundeliegt, folgenden vier Pfaden folgen (rote Pfeile): | | | | |
| | | nach C. Tart: Das Übersinnliche, Stuttgart 1986, S. 140. |
| | | Erster Pfad: direkt vom Psi-Rezeptor zur Bewußtheit. Beispiel: Psi-Erfahrungen, die ein Ziel anscheinend perfekt repräsentieren, wie in präkognitiven Träumen oder hellsichtigen Visionen. Zweiter Pfad: vom Psi-Rezeptor zum Gedächtnis.
Dort wird ein erinnertes Bild hervorgerufen, das dem Ziel mehr oder weniger entspricht. Dieses Bild, nicht die eigentliche Psi-Information, fließt nun ins Bewußtsein. Beispiel: Ein Traumsymbol als verschlüsselter Hinweis auf einen bevorstehenden Todesfall in der Familie. Dritter Pfad: vom Psi-Rezeptor zu einem oder
mehreren Körperbereichen und damit zu den Interozeptoren. Die Psi-Information kommt in körperlichen Empfindungen zum Ausdruck, die dann in unterschiedlichem Maße der primären Verarbeitung ausgesetzt werden, ehe sie zur Bewußtheit gelangen. Beispiel: Manche Heiler spüren die Beschwerden ihrer Patienten, ohne sie zu kennen, am eigenen Leib. (Siehe dazu Das große Buch vom geistigen Heilen
, Kap. II “Psi-Diagnostik”.) Vierter Pfad: vom Psi-Rezeptor zum Unbewußten, mit vielfältigen indirekten Wirkungen. Derart aufgenommene Psi-Information könnte sich etwa dadurch zum Ausdruck bringen, daß sie das System der primären Verarbeitung beeinflußt (z.B. zu "verzerrten" Wahrnehmungen führt),
bestimmte Inhalte des Subsystems Emotionen zur Bewußtheit bringt oder die Prozesse der Wertung und Entscheidungsfindung "einfärbt". Doch diese Wege sind im Wachzustand normalerweise blockiert, denn: 1. Gewöhnlich sind wir so sehr damit befaßt, uns mit der Außenwelt und unseren Reaktionen
auf sie auseinanderzusetzen (und dazu die von den Exterozeptoren vermittelten Daten zu verarbeiten), daß Informationen von anderen Rezeptoren in dieser Flut "untergehen" oder unbeachtet bleiben. 2. Das raumzeitliche Subsystem "verbietet" alle Wahrnehmungen, die die Grenzen des dreidimensionalen Raums und der linearen Zeit zu sprengen scheinen. 3. Das Subsystem Identitätsgefühl vermittelt uns die Überzeugung, "vernünftige" Menschen zu sein, die sich keinen "unlogischen", "unmöglichen" Vorstellungen und Empfindungen hingeben.
In veränderten Bewußtseinszuständen könnte sich dieses System auf vielfältige Weise vorübergehend wandeln, so daß Psi-Leistungen
wahrscheinlicher werden. - Die Aktivität der Exterozeptoren, die außersinnliche Wahrnehmungen gewöhnlich überlagert, könnte gedämpft werden. - Der Psi-Rezeptor könnte in irgendeiner Weise aktiviert werden, so daß die von ihm ausgehenden Signale stärker werden. -
Andere Subsysteme, deren übliche Tätigkeit für Psi hinderlich ist (Identitätsgefühl, raumzeitliches Subsystem), könnten ihrerseits in ihren Funktionen behindert werden. - Eine umfassende Änderung im gesamten Muster des Systems könnte ebenfalls dazu beitragen, daß Psi sich leichter manifestiert.
Ein solches Modell vermeidet die Werturteile der vorherrschenden psychologischen Betrachtungsweise:
Veränderte Bewußtseinszustände fuhren demnach nicht zu einer Desorganisation, zu einer Auflösung von geistigen Strukturen, zu einer Minderung von Funktionen - sondern zu einer Neuorganisation, zu einer Verstärkung einiger Funktionen auf Kosten anderer; zu Strukturen, die nicht weniger, sondern anders integriert sind. |
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