Er war auf dem Höhepunkt seines literarischen Ruhmes und Wohlstands. Sein Leben hätte er in vollen Zügen genießen können - doch er war nahe daran, es sich zu nehmen. In Meine Beichte bekennt der große russische Dichter Leo Tolstoi, warum er zeitweise fest dazu entschlossen war: “Krankheit und Tod würden, wenn nicht heute, dann morgen, zu denen kommen, die ich liebte, zu mir selbst, und nichts würde übrigbleiben außer Gestank und Würmern. Alle meine Handlungen, was immer ich tat, würden früher oder später vergessen sein und ich selbst nirgends sein. Warum dann sich mit irgend etwas beschäftigen? Ich empfand ein Grauen vor dem, was mich erwartete. Ich konnte nicht geduldig das Ende abwarten und sehnte mich danach, mich zu befreien.”
Die Angst vor dem Nichts, den Schrecken der Leere können ihm viele Sinnsucher nachempfinden. Die Aussicht, eines Tages vollständig ausgelöscht zu werden, ist ihnen unerträglich. “Mir ist persönlich nichts wirklich wichtig”, sagte der namhafte Anthropologe Bronislaw Malinowski einmal, “außer der Antwort auf die brennende Frage: Werde ich weiterleben - oder soll ich verschwinden wie eine Seifenblase?”
Doch hätte er, hätte Tolstoi die Gewißheit gehabt, daß irgendetwas, was ihn im Innersten ausmacht, seinem Leichnam entschwebt, ehe dieser vermodert - hätten sich damit für sie denn alle Sinnfragen erübrigt? Ergeben sich nicht vielmehr neue, nicht minder drängende, falls das Leben nach dem Tod ein Faktum sein sollte: - “Jenseits” - wo ist das? Irgendwo weit weg, wie uns uralte Mythen und viele
Weltreligionen glauben machen - oder viel näher, als wir glauben? - Wie ist es im “Jenseits”? Ist es in verschiedene Bereiche unterteilt, wie sie uns das überkommene christliche Modell von Himmel, Hölle und Fegefeuer ausmalt? Gibt es hierarchische Stufen, die den Geistern Verstorbener nur selektiv zugänglich sind? -
Wer bevölkert das “Jenseits”? Gehören neben den Seelen Verstorbener beispielsweise auch Engel und Dämonen dazu? - Was nimmt der unsterbliche Teil unserer selbst ins “Jenseits” mit? Wieviel von dem, was zu Lebzeiten unsere Persönlichkeit ausmachte, bleibt erhalten? (“Sei, wie du willst, namenloses Jenseits”, läßt Friedrich Schiller im vierten Akt seiner “Räuber”
sagen, “wenn ich nur mich selbst hinübernehme!”) - Bewahren wir “drüben” unsere Individualität - oder gehen wir darin auf wie ein Tropfen im Ozean? Was heisst es überhaupt, körperlos ein und derselbe zu sein wie in einem Körper - welches Identitätskriterium kann hier sinnvollerweise angelegt werden? -
Wie ist es, “drüben” zu sein? Denken, fühlen und erleben wir in vergleichbarer Weise wie hier? Erinnern wir uns? Treffen wir Personen wieder, die wir zu Lebzeiten geliebt haben? Lernen wir weiter? Empfinden wir weiterhin Glück und Leid? - Welchen Einfluß hat unser Leben hier und jetzt auf die Art und Weise unseres Weiterlebens dort? Was ist dran an der biblischen Metapher vom “Jüngsten
Gericht”? Werden in der Anderen Welt die Uneigennützigen, Aufrichtigen, Liebevollen belohnt, dagegen die Hartherzigen, Selbstsüchtigen und Grausamen bestraft? In welcher Weise könnte dies geschehen? - Falls wir wiederkehren (reinkarnieren), woran in Westeuropa immerhin schon jeder vierte Erwachsene glaubt - wozu eigentlich? Könnten wir unsere Lektionen nicht auch körperlos
lernen? Was entscheidet darüber, wann, wo und in welchem Leib wir ein neues Leben beginnen? Was trägt der vielbeschworene Begriff des “Karma” dazu bei, dieses Rätsel zu lösen? Und fiele uns die Weiterentwicklung in der Kette mehrerer Inkarnationen nicht wesentlich leichter, wenn wir uns an unsere vergangenen Leben erinnern könnten - und nicht nach jeder Geburt wieder von vorne beginnen müssten? Dies sei einer “Freundlichkeit der Natur” zu verdanken, schrieb Mahatma
Gandhi einmal an eine Schülerin. “Das Leben wäre eine Last, wenn wir eine solche gewaltige Masse von Erinnerungen trügen. Ein weiser Mensch vergißt absichtlich vieles.” Nicht jeden befriedigen solche Auskünfte. (Diese Fragen erörtert H. Wiesendanger in Wiedergeburt – Herausforderung für das westliche Denken
und Zurück in frühere Leben.) - Ist der Gedanke, wir alle könnten unsterblich
sein, nicht eher bedrohlich als tröstlich? Wiegt die Langeweile des Ewig-Seinmüssens geringer als die Angst davor, ausgelöscht zu werden? Antworten auf diese Fragen bestimmen nicht nur unser Verhältnis zu unserem eigenen Tod; sie haben auch Auswirkungen darauf, wie wir sterbenden Angehörigen und anderen nahestehenden Menschen den Übergang erleichtern. Wie bereiten wir sie auf das Ende vor? Wie begegnen wir ihrer Angst?
Liebevolle, weise Sterbebegleitung, anstelle von unbeholfenem, bloß gerührtem Sterbenlassen, ist eine Kunst, die an Einsichten über das Leben nach dem Tod reifen kann. Und auch das Abschiednehmen, die Bewältigung von Trauer machen sie leichter. |