“Die Zukunft sieht man nicht, die Vergangenheit wohl. Das ist seltsam, denn wir haben unsere Augen ja nicht auf dem Rücken.” Eugéne Ionesco Schrecklich hätte er werden können, der 1. Januar 2000. Pünktlich zum Millenniumswechsel, so warnten zunehmend nervösere Informatikexperten in den Monaten zuvor, kommt es schlimmstenfalls weltweit in Atomkraftwerken zu Kernschmelzen, stürzen Flugzeuge vom Himmel, rasen Züge ineinander. Die elektronischen Frühwarnsysteme der Supermächte spielen verrückt, melden Angriff, initiieren den Gegenschlag – und lösen damit den Dritten Weltkrieg aus.
Hinter alledem stecken Computersysteme, die auf den Datumswechsel nicht vorbereitet sind: Weil sie darauf programmiert wurden, Jahreszahlen nur zweistellig zu rechnen, spielen sie verrückt, wenn der Kalender von “99” auf “00” springt – für sie beginnt das Jahr 1900. Doch nachdem das berüchtigte “y2k”-Problem am Ende doch nur technische Pannen der harmloseren Art produzierte:
Darf die Menschheit seither sicher sein, das neue Millennium heil zu beginnen? Schwarzseher finden weiterhin Gehör – denn viele von ihnen sagen, meist ohne sich auf Jahr und Tag festzulegen, einen apokalyptischen Zeitenwechsel voraus, zu dem es am Übergang vom zweiten zum dritten Jahrtausend kommen soll: verheerende Kriege und Kometeneinschläge, neue Seuchen und Hungersnöte, Naturkatastrophen nie gekannten Ausmaßes. Düstere Vorahnungen, die massenhaft Endzeitängste erzeugen, kommen vielen Sekten gerade recht, die Anhänger mit der Aussicht auf exklusive Rettung und Erlösung ködern. Weshalb sich global Bedeutsames zutragen soll, bloß weil nach christlicher Zeitrechnung ein weiteres Jahrtausend anbrach, ist allerdings mehr als fraglich. Schon Anno Domini 1000 sorgten sich 30 Millionen
römisch-katholische Christen um das nahe Ende, weil dies der Geheimen Offenbarung des Johannes zufolge das Jahr des Untergangs war.* Doch was war mit den übrigen 500 Millionen Menschen, die damals den Planeten bevölkerten? Für das islamische Europa beispielsweise (Sizilien, Sardinien, Korsika und die grössten Teile der iberischen Halbinsel) lag das Jahr 1 im Jahr 622 des katholischen Kalenders: jenem Jahr nämlich, in dem Mohammed vor seinen Häschern von Mekka nach Medina floh. Die Juden
lebten nach ihrem Kalender anno 1312, und für die meisten Buddhisten brach das Jahr 1544 an. Ein aufgeklärter Weltbürger hätte es gewiß schon damals als reichlich kurios empfunden, wenn der liebe Gott eigens für den katholischen Sprengel der Erde eine Art Weltuntergang inszeniert hätte, um die Jahrtausendwende zu markieren. Neben den “großen” Propheten dürfen nicht die unzähligen kleinen vergessen werden. Auf
der Esoterikwelle haben Wahrsager und Medien Hochkonjunktur wie seit dem Mittelalter nicht mehr: Allein im deutschsprachigen Raum sollen inzwischen über 100.000 haupt- oder nebenberuflich ihre Dienste anbieten. Gläubige Kundschaft läuft ihnen zuhauf zu: Nicht weniger als 38 Prozent der erwachsenen Bevölkerung hierzulande meint, “dass sich die Zukunft voraussagen läßt”.** Wie hell sehen Hellseher wirklich? Wie zuverlässig sind Deutungen von Horoskopen und Handlinien, von Karten und
anderen Orakeln? An esoterischen Bemühungen, die Zukunft zu ergründen, ist reichlich Kritik angebracht; doch seriöse Kritik nimmt nicht den Prügel, sondern die Lupe. Einerseits äußern sich Hellsichtige notorisch ungenau, mehrdeutig – und wo sie sich mal festlegen, liegen sie oft daneben. (Siehe Die Jagd nach Psi, S. 253 ff.: “85 deutsche Wahrsager im Test”.) Andererseits scheint manche Weisagung verblüffend zu “passen”. (Siehe z.B. Die Jagd nach Psi, S. 256 ff.:‘Vor meinem geistigen Auge sah ich ...‘: Ein Bremer Medium zwischen Erfolgund Blamage”.) Fällt der Klient da auf psychologische Mechanismen herein? Oder liegen tatsächlich außersinnlich gewonnene Informationen vor? Am besten verfahren wir nach
dem Motto: “Selber erleben ist besser als immer schon von vornherein Bescheid wissen”; und solange eine so okkulte Wissenschaft wie die Charttechnik ohne weiteres die Börsenseiten unserer angesehensten Tageszeitungen füllen darf, sollten wir auch der esoterischen Wahrsagerei eine faire Chance geben. Ob bei ihnen stets oder auch nur häufig ein “siebter Sinn” im Spiel ist, kann man sicher nicht
pauschal als gegeben ansehen (wie das die Hellsehzunft selbst und ein Großteil ihrer Klienten tun) – man kann es aber auch nicht pauschal in Abrede stellen. Denn Präkognition an sich ist eine Tatsache. Gewiß gibt es sehr oft Abgrenzungsprobleme zu anderen paranormalen Phänomenen - vor allem zu Hellsehen, Telepathie -, aber auch recht
eindeutige Fälle. Wer das immer noch bestreitet, steht nicht mehr bloß am Rand einer klaffenden Bildungslücke – er ist schon einen Schritt weiter. Nach über 100 Jahren parapsychologischer Forschung liegen inzwischen Untersuchungen Hunderter von Spontanfällen sowie weit über tausend Labortests und experimentelle Studien zur Präkognition vor, die man zwar weiterhin ignorieren, aber nicht mehr wegdiskutieren kann. Im
Jahre 1989 veröffentlichten zwei amerikanische Parapsychologen (Charles Honorton, Diane Ferrari) eine Meta-Analyse von 309 Präkognitions-Experimenten, die zwischen 1935 und 1987 durchgeführt wurden: annähernd 2 Millionen Einzelsitzungen mit mehr als 50.000 Versuchspersonen. (Dabei konzentrierten sie sich ganz auf Versuche mit vorgegebenen Zielsymbolen – z.B. Spielkarten, Würfel, ausgeloste Symbole -, deren zufällige spätere Auswahl vorhergesehen werden sollte. Die Gesamtzahl aller
bisher durchgeführten Präkognitionstests dürfte inzwischen weit über 1000 liegen.) Die mittlere Effektstärke pro Einzelversuch war zwar gering. Aber gleichzeitig erwies sie sich als so konsistent, daß der statistische Gesamteffekt extrem signifikant war. Gegen solche Meta-Analysen wird oft eingewandt, daß sie ein
verzerrtes Bild liefern, weil eben positive Ergebnisse eher veröffentlicht werden als negative. Die beiden Parapsychologen berechneten aber: Der statistische Effekt war alles in allem derart erheblich, daß im untersuchten Zeitraum von 52 Jahren auf jeden veröffentlichten Versuch pro Monat 23 weitere mit negativem Ausgang hätten kommen müssen, um den Effekt “auszulöschen” – und eine solche Vermutung ist reichlich abwegig. (“Future Telling”: A Meta-Analysis of
Forced-Choice Precognition Experiments”, Journal of Parapsychology 35/1989, 281-308). Zugleich hat die parapsychologische Forschung gezeigt: Präkognition ist eine Fähigkeit, über die nicht nur wenige Auserwählte verfügen, sondern – mehr oder minder ausgeprägt -vermutlich jeder. (Vier von zehn Erwachsenen erklären in Umfragen, schon mindestens einmal ein Ereignis vorausgeahnt zu haben, das eigentlich
nicht zu erwarten war.) Ein Beispiel: Der US-amerikanische Parapsychologe William Cox verglich über einen längeren Zeitraum hinweg die Passagierzahlen von Eisenbahnzügen, die verunglückt waren, mit der durchschnittlichen Anzahl von Passagieren auf denselben Strecken an zehn anderen Tagen. Es zeigte sich: Am Tag des Unfalls waren statistisch signifikant weniger Fahrgäste in den Waggons als an den
anderen Tagen. Offenbar haben viele Menschen ohne ihr Wissen Vorahnungen und lassen sich von ihnen leiten. (William Cox: Precognition: An Analysis, II, Journal of the American Society for Psychical Research 50/1956, 99-109). In Präkognitionstests schneiden Normalbürger im allgemeinen nämlich keineswegs schlechter ab als “Sensitive” – vorausgesetzt, 1. man schafft ihnen günstige Bedingungen (etwa durch Meditation, induzierte Entspannung, Hypnose – d.h. man führt sie in Bewußtseinszustände, die erfahrene “Sensitive” von alleine erreichen) 2. ermutigt sie zu Äußerungen (“Sensitive” trauen sich mehr). 3. gibt ihnen Rückmeldung über Treffer (“positives Feedback”).
Aber die parapsychologische Forschung zeigt auch, welch enge Grenzen dem menschlichen “Zukunftssinn”, seinem “Dritten Auge”, gesteckt sind. - Mit einer höheren Trefferzahl steigt zugleich die Fehlerquote.
- besonders unzuverlässig: Angaben von Ort und Datum - Der “Zukunftssinn” bewegt sich im allgemeinen in einem sehr engen zeitlichen Horizont - meist schon Minuten oder Stunden, wenige Tage später. - betreffen meist banale Ereignisse im persönlichen Umfeld (s. Traum-Tagebücher) - nicht immer realistisch, sondern oft symbolisch verschlüsselt, so daß sich die wahre Bedeutung erst im nachhinein erschließt - nicht abstrakt, sondern in der Regel bildhaft-konkret.
(Man sieht also gerade nicht, wie von einem Raumschiff aus, den großen Krieg zwischen Supermächten, sondern den kleinen Infanteristen, der blutüberströmt in einem Schützengraben liegt)
Und daraus ergeben sich schier unüberwindliche Probleme der Nutzanwendung. Vor allem englische und amerikanische Parapsychologen erhofften sich eine Zeitlang ein “Frühwarnsystem” zur Abwehr drohender Gefahren. Sie
begannen, systematisch Vorahnungen zu sammeln, die (a) hinreichend präzise waren, (b) eine beglaubigte Niederschrift fanden, ehe sie sich bewahrheiteten, (c) untereinander auffällig oft übereinstimmten. Alle derartigen Projekte dürfen als gescheitert gelten. Doch all diesen Mühen der Lohn versagt: - Berichte, die sich anscheinend auf ein und dasselbe Ereignis bezogen, gingen nur spärlich ein; - die meisten betrafen zudem banale Episoden aus dem unmittelbaren persönlichen Umfeld - oder erfüllten sich binnen weniger Stunden (zu kurzfristig)
- Da die Motivation der Berichterstatter im Dunkeln blieb, konnte stets ein Scherzbold dahinterstecken. - Zudem wurden angebliche Vorahnungen zu allen möglichen Ereignissen gemeldet – und das konnten unendlich viele sein.
Ernüchtert machte Barker sein Büro dicht. Über die gleichen Probleme klagt die New Yorker Stelle, sammelt vorerst aber unverdrossen weiter. Neben der Nutzanwendung wirft das Phänomen der Präkognition natürlich auch theoretische und ethische Fragen auf: - Wenn es wirklich
möglich ist, in die Zukunft zu sehen – wie erklärt man sie das? (Offenbar benötigen wir dazu eine “Neue Physik” mit radikal veränderten Begriffen von Zeit und Kausalität.) - Was bedeutet das Phänomen für menschliche Freiheit und Verantwortung? Ist beides bloße Illusion?
Ein Beispiel: Wie
Sie bestimmt noch nicht wissen, ging am 11. August 1999 die russische Raumstation Mir als Blechhagel über Paris nieder, machte die Stadt dem Erdboden gleich und verseuchte sie obendrein atomar. Zumindest einer jedoch wußte dies ganz genau, zumindest bis zum 11.8.1999: der große französische Modeschöpfer Paco Rabanne, der bis vor kurzem ein glühender Nostradamus-Verehrer war. Den Untergang von
Paris hatte er im Frühjahr in einem apokalyptischen Bestseller (1999 – Le Feu du Ciel) angekündigt. Immerhin war Paco Rabanne Manns genug, kurz darauf in einer Presseerklärung öffentlich Abbitte zu leisten: “Ich war ein alter, blinder Esel”, schrieb er, “und bitte das Volk inständig um Verzeihung für meine Panikmache.” Solche Episoden bestätigen natürlich schlimmste Vorurteile über apokalyptische Weissagungen, wie überhaupt über das Phänomen der Prophetie. Trotzdem sollten wir der Neigung zu Pauschalurteilen widerstehen. Seriöse Kritik nimmt nicht den Prügel, sondern die Lupe. Inmitten der Masse von Panikmachern werden ja möglicherweise jene wenigen Könner übersehen, die tatsächlich über ein “drittes Auge” verfügen. Das Ende der Welt tritt nach Nostradamus (1503-1566) übrigens erst ein, wenn Ostern auf den 25. April fällt. Bisher war das in den Jahren 1666, 1734, 1886 und 1943 der Fall. Das nächste Mal wird es im Jahre 2038 sein. Die 468. Aktualisierung dieser Homepage wird darauf zurückkommen. Anmerkungen: * Dabei liegt dieser Zeitrechnung wohl ein Rechenfehler zugrunde. Ihren Ausgang nahm sie von einem Auftrag des Papstes an den römischen Abt Dionysius im Jahre 525, das Geburtsjahr Jesu zu berechnen. 532 setzte Dionysius es als Jahr 1 in den bis dahin gültigen römischen Kalender. Dabei hat er sich vermutlich aber um sechs Jahre verrechnet: Christus wurde höchstwahrscheinlich im Jahre 6 “vor
Christus” geboren. Wer die christliche Zeitrechnung mit der historischen Wahrheit versöhnen wollte, hätte folglich das Ende des vergangenen Jahrtausends bereits 1994 feiern müssen. ** Nach einer Repräsentativumfrage der Wickert-Institute im Juni 1991 unter 1795 Westdeutschen. |