Zuerst und vor allen Dingen muß eine Erklärung der Sache, die erklärt werden soll, gerecht werden, darf sie nicht abwerten, sie weginterpretieren, sie herabsetzen oder entstellen, um sie leichter verständlich zu machen ... Es geht nicht darum, wie das Phänomen gewendet, verdreht, verengt, verkrüppelt werden muss, so dass es um jeden
Preis aufgrund von Prinzipien erklärbar ist, von denen wir ein für allemal beschlossen haben, nicht über sie hinauszugehen. Die Frage ist: “In welchem Maße müssen wir unser Denken erweitern, damit es dem Phänomen entspricht?” Friedrich von Schelling ´”Mein früheres Leben und Sterben in Indien”, so erinnert sich die Schweizerin Edda B. aus Richterswil, Teilnehmerin an der Reinkarnationsstudie anläßlich der diesjährigen Psi-Tage, an eine Gruppenrückführung, “erlebte ich so intensiv, dass ich noch zwei Stunden danach Herzweh hatte. Für mich ist das unvergesslich. So etwas kann man nicht erfinden oder träumen!”
Ähnlich unbelastet von Zweifeln äussern sich die meisten Menschen, die sich früherer Leben zu entsinnen meinen: Die Intensität des Erlebten lasse keine andere Erklärung zu als Reinkarnation. Kritiker finden das allzu blauäugig. Vermeintliche Wiedergeburtserlebnisse können ihres Erachtens von mehrerlei bekannten psychologischen Einflüssen herrühren:
- von absichtlichen oder unbewußten Suggestionen eines “Rückführers”, der in der Regel ja selber von Reinkarnation überzeugt ist und die Zeitreise retour entsprechend dirigiert. - von soziokulturellen Einflüssen. Wer sich vornehmlich in einem reinkarnationsgläubigen Umfeld bewegt –
seien es Hindus und Buddhisten in Fernost oder westliche New-Age-Bewegte in ihrer esoterischen Subkultur -, der neigt zu passenden Überzeugungen und Phantasien über seine “wahre Identität”. - von Identifikationen. Sich eins zu wähnen mit verstorbenen Personen, kann eine Fülle von Motiven befriedigen – und das um so besser, je bedeutender das “frühere Selbst” war.
Doch solche Versuche, Reinkarnationserlebnisse kurzerhand wegzupsychologisieren, befriedigen nicht immer. Denn häufig treten die Erinnerungen spontan auf, ein suggestiver Einfluss ist unauffindbar, ein subjektiver Gewinn durch Identifikation allenfalls an den Haaren herbeizuziehen. Zudem bliebe im Dunkeln, weshalb sich solche Erinnerungen hin und wieder im nachhinein verifizieren lassen: Nachweislich beziehen sie sich, manchmal in minutiösen Einzelheiten, auf eine Person, die tatsächlich gelebt hat – mit dem erinnerten Namen, am behaupteten Ort, zur angegebenen Zeit.
Um solche Absonderlichkeiten zu erklären, ohne Anleihen bei Reinkarnationstheorien machen zu müssen, werden vor allem zwei Hypothesen erwogen, die von “normalen” Ursachen ausgehen: - Kryptomnesie (von griech. krypto-: geheim, verborgen; mneme: Gedächtnis): Handelt es sich um Gedächtnisinhalte,
deren Herkunft man völlig vergessen hat (“Quellenamnesie”)? Entstammen sie vielleicht Büchern, Filmen, Vorträgen, Gesprächen in diesem Leben? - Genetisches Gedächtnis: Entsteigen “frühere Leben” vielleicht ererbten Erinnerungen? Könnten Vorfahren irgendwie im Erbgut gespeichert haben, was sie einst erlebten, und diese genetische Information auf ihre Nachkommen übertragen haben, die
sie nun mit eigenen Erlebnissen verwechseln? Doch auch diese Erklärungen befriedigen nicht immer. Spekulationen um ein “Ahnengedächtnis” fehlt die hirnphysiologische Grundlage: Nach allem, was wir bislang über Mechanismen der Vererbung wissen, werden über die elterliche DNS kaum je spezifische Lerninhalte weitergegeben, sondern überwiegend Lernpotenzen, offene Programme der
Informationsverarbeitung. Zudem stammt ein vermeintlich “Reinkarnierter” fast immer von Eltern ab, die keinerlei verwandtschaftliche Verhältnisse mit seiner anscheinenden vorherigen Familie verbinden. Im übrigen können Eltern an ihren Nachwuchs genetisch allenfalls solche Erlebnisse weitergeben, die sie vor der Zeugung gemacht haben. Daraus folgt aber, dass niemand die Erinnerung an seinen Tod “vererben” kann. Doch gerade Sterbeerlebnisse tauchen in den Schilderungen
“Wiedergeborener” recht häufig auf. Dass Kryptomnesien bei mutmasslichen Reinkarnationsfällen vereinzelt nachgewiesen werden konnten, beweist noch lange nicht, dass sie stets beteiligt sind. Für die meisten “früheren Leben”, zumal die mehrere Jahrhunderte zurückliegenden, existieren überhaupt keine Quellen, oder sie waren dem Betreffenden nachweislich unzugänglich – und werden manchmal
überhaupt erst aufgrund seiner Angaben entdeckt. Aus diesem Erklärungsnotstand scheint die Parapsychologie herauszuführen. Stellen “Erinnerungen an frühere Leben” Sonderfälle von aussersinnlicher Wahrnehmung (ASW) dar? Zapfen “Zurückgeführte” vielleicht telepathisch den Wissenschatz ihrer Therapeuten oder anderer Mitmenschen an? Verschaffen sie sich hellsichtig Zugang selbst zu den verborgensten historischen Quellen? (Bei derartigen Quellen bräuchte es sich nicht unbedingt nur um Bücher, Fotos und sonstige materielle Datenträger zu handeln. Esoteriker rechnen mit einem ätherischen “Weltgedächtnis” (Akasha-Chronik), in dem alles, was wir jemals erleben, denken und tun, seinen unauslöschlichen Abdruck hinterlässt. Solche zeitlosen, ins Feinstoffliche eingravierten “Selbstporträts” sind es womöglich, die Nachgeborene mit einem dritten Auge “sehen” – und dann für eigene Erlebnisse in anderen Körpern halten.) Sehen sie womöglich präkognitiv künftige
Entdeckungen über die Biographien Verstorbener voraus? Oder gelingt ihnen Retrokognition, eine unmittelbare Rückschau in die Vergangenheit – was veränderte Zeitmodelle voraussetzen würde, denen zufolge noch irgendwie “da” ist, was war? In seltenen Fällen mag ASW mitspielen – meist aber bleiben Psi-Theorien ebenso spekulativ wie defizitär. Sie allein erklären weder,
warum sich ein Mensch gerade mit dieser Person identifiziert, noch warum so intensiv, noch warum derart dauerhaft. Vor allem bringen sie, ad hoc, eine ansonsten nirgendwo beobachtete, geradezu phantastische aussersinnliche Fähigkeit (“Super-Psi”) ins Spiel, die ihrerseits mindestens ebenso erklärungsbedürftig wäre wie Reinkarnationserinnerungen selbst. Spiritisten gehen noch einen Schritt weiter: Des
Rätsels Lösung, so meinen sie, liege nicht im paranormalen Menschen, sondern im Transzendenten. Ihres Erachtens deuten Reinkarnationserinnerungen auf eine meist unbewusste Medialität hin: Womöglich entstammen sie Einwirkungen aus der Geisterwelt. Verstorbene leben körperlos fort – und “lassen aus ihren eigenen Erinnerungen etwas in unsere Ideen und Gedanken einfliessen”, wie schon der schwedische Naturforscher und Philosoph Emanuel Swedenborg (1688-1772) vermutete.
Äusserstenfalls bahne Medialität einer Besessenheit den Weg: Das “frühere Selbst”, das aus einem Menschen mit Reinkarnationserinnerungen zu sprechen scheint, sei in Wahrheit ein fremder Geist, der von dessen Körper Besitz ergriffen hat. Spiritistische Mutmassungen bleiben unwiderlegbar, in den typischen Fällen aber unplausibel. Fast nie fallen an den Betreffenden ansonsten mediale
Begabungen auf – und schon gar nicht die üblichen psychopathologischen Symptome von “Besessenheiten”. Behandlungsbedürftig erscheint kaum einer von ihnen. Und “wenn der besitzergreifende Geist auf eine Persönlichkeit einen derart starken Einfluss ausübt, dass diese behauptet, jemand anderes zu sein”, so wundert sich der amerikanische Psychiater und Reinkarnationsforscher Ian Stevenson, “warum erinnert sich die besitzergreifende Persönlichkeit dann
anscheinend nicht an alles aus dem früheren Leben?” Überdies bleibt oft der Grund unerfindlich, aus dem ein Jenseitiger unsereinem derart mitspielen sollte; bei den klassischen Fällen von “Besessenheit”, stellt Stevenson klar, “können wir gewöhnlich ein Motiv erkennen, und zwar entweder auf seiten der Primärpersönlichkeit – die z.B. den Wunsch haben mag, sonst verborgene Impulse zu äussern – oder auf seiten der vermuteten besitzergreifenden Persönlichkeit – die z.B. das Bedürfnis hat, Rache zu üben oder auf ihr Grab aufmerksam zu machen”. Nur wenige Menschen mit mutmasslichen Reinkarnationserinnerungen passen in dieses Schema.
Kurzum: Wenngleich Reinkarnation bei weitem nicht die einzige Erklärung für “Erinnerungen an frühere Leben” darstellt, scheint sie bis auf weiteres die einfachste und einleuchtendste.´ Allerdings hätte eine umfassende, einigermassen befriedigende Reinkarnationstheorie weitaus mehr zu erklären als nur zutreffende,
offenbar paranormal erlangte Erinnerungen an Verstorbene, mit denen man sich voll und ganz identifiziert. Was ist dieses Etwas, das “wiederkommt” und über mehrere Leben hinweg seine Identität bewahrt? Gleicht es eher, wie Hindus glauben, “einem Mann, der, wenn er seine verschlissenen Kleider abgeworfen hat, andere, neue anlegt” (Bhagavadgita 2,22), oder einer “Raupe, die, wenn sie das Ende des Grashalms erreicht hat, einen anderen Halm ergreift und sich zu ihm hinüberzieht” (Brhadaranyaka-Upanishad 4,4,3)? Oder ist, wie Buddhisten meinen, eine den Tod überdauernde, sich wiederverkörpernde Seele eine Illusion – und das, was von einer Inkarnation zur anderen weitergegeben wird, allenfalls ein “karmisches” Bedingtsein (paticcasamuppada),
das sich fortpflanzt wie der Impuls einer Kugel auf dem Billardtisch, die der jeweils folgenden Kugel Bewegung und Richtung gibt? Und falls es doch eine wandernde Seele gibt: Wie löst sie sich im Tod, wo geht sie hin, wie existiert sie körperlos weiter, wann und wie verbindet sie sich mit einem neuen Körper, und wieso ausgerechnet mit diesem? Ist sie ihrerseits endlich oder unvergänglich? Fragen über Fragen, die vorerst im Nebel religiösen Dafürhaltens verharren. |