Geistiges Heilen erforschen - Der Erklärungsnotstand
Über einem entlegenen Dschungelgebiet verliert ein Flugzeug eine Kiste mit batteriebetriebenen Kofferradios. Sie geht auf einer Urwaldlichtung nieder, auf der Eingeborene in primitiven Strohhütten hausen. Nie zuvor sind sie mit anderen Zivilisationen in Berührung gekommen, geschweige denn mit deren kommunikationstechnischen Errungenschaften. Entsprechend ängstlich nähern sie sich der aufgeplatzten Kiste, und
nur zögernd befingern sie die herausgefallenen Radios. «Es sind Geschenke des Himmels», beruhigt sie ihr Medizinmann. Und so nimmt jeder Eingeborene einen der kleinen schwarzen Kästen mit in seine Hütte. Rasch entdecken sie, dass daraus unverständlich sprechende Stimmen, fremdartige Gesänge und Musik ertönen, sobald sie einen bestimmten Knopf drücken und an einem Rädchen drehen; und dass diese Töne um so deutlicher werden, je weiter ein silberner Stab aus dem Kasten herausgezogen wird. Ein
besonders Neugieriger zerlegt das Gerät, doch findet er weder winzige Menschen noch Musikinstrumente darin.
Von Radiowellen, Frequenzen und den Funktionsprinzipien von Rundfunkempfängern hat der Stamm selbstverständlich keine Ahnung. Trotzdem kursieren im Dorf zahlreiche Theorien darüber, wie es die Kästen anstellen, zu sprechen und zu singen. «Es sind die Seelen unserer Ahnen», sagt einer, «der Stab ist das Ohr, das ihnen lauscht, während sie durch die Lüfte schweben.» Ein anderer
meint: «Ein Zauber hat Dämonen in den Kasten gebannt. Aus ihm heraus wenden sie sich nun an uns.» Ein dritter glaubt: «Der Kasten ist das Sprachrohr unserer Götter.» Fragend wenden sie sich an den Medizinmann: «Kennst du das wahre Geheimnis?» Doch er schweigt.
Sind wir auf unserer Suche nach Erklärungen, wie Geistiges Heilen möglich ist, diesen Wilden bisher prinzipiell voraus? Kaum ein einführendes Buch über diese
sonderbare Therapieform versäumt es, der Erläuterung von «Theorien» ein eigenes Kapitel zu widmen. Doch strenggenommen hat nichts, was auf den betreffenden Seiten vorgetragen wird, die Bezeichnung «Theorie» verdient: im Sinne eines Systems von gesetzesartigen Aussagen über Zusammenhänge zwischen beobachteten Ereignissen und Vorgängen sowie über die Ursachen dieser Zusammenhänge - ein System überdies, aus dem zuverlässige Prognosen und erfolgversprechende Handlungsanweisungen logisch
abzuleiten sind. Was uns statt dessen geboten wird, sind Metaphern, in denen Geistheiler selbst zu umschreiben versuchen, was sie tun. Von «Kanälen» und «kosmischen Kraftquellen», von «Schwingungen» und «feinstofflichen Körpern», von «Strömen» und „Feldern“ ist die Rede. Diese Bilder sind anschaulich und in hohem Maße suggestiv. Doch vorläufig weiß niemand, ob es treffende, brauchbare Bilder sind - oder ob sie eher irreführen, weil sie an bekannte Naturerscheinungen denken lassen, die
möglicherweise ganz anderen Prinzipien folgen. Bis jetzt steht lediglich fest, worauf Geistiges Heilen nicht vollständig zurückzuführen ist:
- nicht bloß auf psychologische Wirkfaktoren wie Suggestionen und Placebo-Effekte, ebensowenig auf Spontanremissionen;
• nicht bloß auf paranormale Leistungen wie Psychokinese und Telepathie. (Die meisten Geistheiler heilen nicht durch gezielte psychokinetische Einwirkungen auf Teile des Körpers oder auf eingedrungene
Krankheitserreger, sondern durch unspezifische Reize auf den Organismus als Ganzem. Die Telepathie-Hypothese erklärt nicht, wie Geistheiler es fertigbringen, niedere Lebewesen, isolierte Zellen und anorganisches Material zu beeinflussen.)
- auch nicht auf bekannte physikalische Energien wie elektrische Ströme, magnetische Felder oder Radiowellen. (Dagegen spricht unter anderem, dass sich die vom Geistheiler ausgehenden oder vermittelten Kräfte offenbar durch beliebige Entfernungen und
Hindernisse nicht abschwächen lassen.)
In Wahrheit machen uns die Phänomene, mit denen Geistiges Heilen die neuzeitliche Medizin und Wissenschaft herausfordert, ebenso ratlos wie einst Fossilienfunde, die anscheinend für die Darwinsche Evolutionstheorie sprachen, die Anhänger der biblischen Schöpfungslehre. In dieses Defizit an Erklärungen hinein wuchert ein Wust von unausgegorenen Spekulationen, derentwegen leider auch gesicherte Beobachtungen unverdientermaßen ins Zwielicht geraten. Halten wir es vorläufig besser wie der Medizinmann im Urwald angesichts der Radios: Schweigen wir.
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