Befinden und Befund - Plädoyer für die subjektive Perspektive
In diesem Kapitel außerdem: Geistheilung: Einzelfälle verführen zu Fehlschlüssen Geistheilung? Wie wahrscheinlich sind medizinische “Wunder”? Patienten beim Geistheiler: Umfragen im Überblick Vollständige Genesungen beim Geistheiler Besserungen von Symptomen durch Geistiges Heilen Veränderungen des Allgemeinbefindens durch Geistiges Heilen Immenser Leidensdruck - Der typische Heiler-Klient Befinden und Befund - Plädoyer für die subjektive Perspektive
Schwere Krankheit hat zwei Seiten. Die eine spiegelt sich im objektiven medizinischen Befund: in Messkurven und Laborwerten, in Röntgenbildern und
Tomogrammen. Die andere besteht aus den Beeinträchtigungen, Beschwerden und Verlusten, die der Betroffene selbst erlebt. Schwere Krankheit kann für ihn andauernden Schmerz und Schwäche bedeuten. Sie kann ihn zunehmend entstellen und behindern. Sie lässt ihn oft einsam werden. Sie kann ihn launisch, verbittert, hoffnungslos, sinnleer machen. Und voller Angst.
Welche Seite verdient stärkere Beachtung? Wenn Geistheiler sich eines Hilfesuchenden annehmen, fragen sie nicht danach. Sie
nehmen sich ihres Klienten als ganzer Person an: als einer untrennbaren Einheit von Körper, Geist und Seele. Was sie ihm vermitteln, ist vielleicht eine rätselhafte, physikalisch noch unfaßbare Energie, fast immer aber zwischenmenschliche Wärme, Verständnis, Aufmerksamkeit, Geborgenheit. Falls sie auf diese Weise, gegen alle ärztlichen Prognosen, im organischen Bereich eine Wende zum Besseren anstoßen oder auch nur einen für unabwendbar gehaltenen Verfall aufhalten können, ist das
bemerkenswert. Aber sollte, was Heiler können, allein an organischen Veränderungen gemessen werden, und jeder Fortschritt, der unterhalb der vollständigen Remission bleibt, als minderwertig dastehen?
Viele Patienten tun dies, weil sie in den üblichen Arztpraxen und Krankenhäusern gelernt haben, Heilerfolge vornehmlich nach diesem Maßstab zu beurteilen - ebenso wie ihre behandelnden Ärzte dies während ihres Studiums vom vorherrschenden klinischen Forschungsstil lernten. (Bezeichnend:
90.000 Arzneistudien fanden britische Epidemiologen kürzlich im Cochrane Controlled Trials Register, einer Datenbank, in der ein Großteil aller klinischen Studien weltweit gespeichert ist; nur 2000 von ihnen bezogen auch den Faktor “Lebensqualität” ein.) Mit entsprechenden Erwartungen suchen Patienten einen Geistheiler auf, und mit denselben Erwartungen blättern sie vermutlich in diesem Buch. Manch einer verspricht sich Hinweise darauf, mit welcher Wahrscheinlichkeit
sich selbst ein metastasierter, inoperabler Tumor noch irgendwie auflöst, wenn die Hand eines Begnadeten lange genug darüberliegt. Was sie interessiert, sind Schicksalsberichte über Leidensgefährten, deren Karzinome von purem "Geist" spurlos weggeschmolzen wurden, und Empfehlungen von Heilern, die als Spezialisten für eine solche "übersinnliche" Strahlentherapie gelten.
Aber sind die subjektiven Veränderungen, die Heiler zustande bringen, etwa weniger erstaunlich
als die objektiven? Wenn ein Krebskranker, den Ärzte aufgegeben haben, nach wenigen Sitzungen wieder Kraft, Mut und Lebensfreude spürt; wenn seine Schmerzen und Ängste nachlassen; wenn er so ausgeglichen, gelassen und zuversichtlich ist wie seit Jahren nicht mehr; wenn er aufhört, mit seinem Schicksal zu hadern, und neuen Sinn findet: dann ist dies bewundernswert, ein kleines Wunder. Wiegt es geringer, wenn das große "Wunder" ausbleibt: das Verschwinden der Symptome, die körperliche
Genesung? Geistiges Heilen tut gut - auch wenn dies, selbst unter dem stärksten Elektronenmikroskop, keiner Zellprobe anzusehen sein mag.
Wer mehr verlangt, verwechselt Heilen mit Kurieren. Was bedeutet es überhaupt, einen Menschen zu heilen? Heilung ist die Wiederherstellung von Gesundheit. Aber was heißt es, gesund zu sein? Wir alle sind in einer medikalisierten Kultur aufgewachsen, in der wir gelernt haben, unsere Befindlichkeit durch die Brille einer ärztlichen Expertokratie
wahrzunehmen und zu bewerten, die sich alleinzuständig für sie wähnt. Der Sinnspruch "Es gibt tausend Krankheiten, aber nur eine Gesundheit" stimmt nicht - es gibt mehrere. Für unsere Medizin werden wir zum Fall, wenn wir Symptome entwickeln, für die sie Begriffe, Mittel und Theorien entwickelt hat: messbare Defekte in der Maschinerie unseres Leibs. Entsprechende Definitionen beherrschen denn auch unsere Lexika: Der 25bändige "Meyer" etwa setzt Gesundheit gleich mit
dem "Fehlen ärztlicher und labormedizinischer Befunde, die von der Norm abweichen"; gesund sei, wessen "Körperfunktionen ohne Einschränkung intakt sind". Folgerichtig erkundigt sich der Hausarzt in der Sprechstunde: "Was fehlt Ihnen denn?" - und wir reagieren wie selbstverständlich mit der Aufzählung von einzelnen, isolierten Abweichungen von der Norm, statt zu sagen, was uns wirklich fehlt: Liebe vielleicht, oder Sicherheit, Angstfreiheit, innere Ruhe und
Ausgeglichenheit, Bindungen, eine Aufgabe, Sinn. Zurecht plädiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für einen erweiterten Begriff von Gesundheit: als eines "Zustands vollkommenen körperlichen, geistigen und seelischen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen." In diesem Sinne können wir krank sein, ohne Symptome zu entwickeln; wir können gesund sein, obwohl unsere Funktionen von der medizinischen Norm abweichen. Denn Vitalität und Wohlbefinden, auch
wenn sie in engem Zusammenhang mit körperlicher Intaktheit stehen, sind nicht notwendig daran gebunden. Deshalb muss eine Geistheilung keineswegs mißlungen sein, nachdem sie an der Symptomatik nichts oder zuwenig geändert hat: genesen, in einem umfassenderen Sinn heil werden, kann ein Patient durch sie dennoch, und darin liegt vielleicht ihre größte Stärke.
Es gibt Krebskranke, die sich heiler fühlen als ihre tumorfreien Angehörigen. Es gibt Todgeweihte, die heiler hinübergehen, als
ihre Hinterbliebenen je gelebt haben. Letztlich stirbt man nicht an einer bestimmten Krankheit - man stirbt an einem ganzen Leben. | | Fernheilen (3 Bände) |