Wie gelangt jene Lebensenergie, in deren freiem Fluss das Geheimnis der Gesundheit liegen soll, überhaupt in uns hinein? Wir nehmen sie über den Atem, die Haut und die Nahrung auf, lehrt die traditionelle chinesische Medizin. Doch schon in den 800 bis 600 v. Chr. entstandenen Upanishaden, den heiligen Schriften der Hindus, findet sich eine vierte Antwort, die ebenso in altägyptischen Schriften, im japanischen Zen-Buddhismus und andeutungsweise sogar bei unseren
europäischen Ahnen wiederkehrt: die Lehre von den Chakras (oder Chakren).
Das Wort «Chakra» stammt aus dem Sanskrit, einer im 1. Jahrhundert v. Chr. aus einem indoarischen Dialekt entwickelten Kunstsprache, in der brahmanische Gelehrte disputierten und schrieben. «Chakra» heißt wörtlich «Rad», in Anspielung auf außersinnliche Eindrücke, von denen Hellsichtige und Heiler seit Jahrtausenden berichten: Sie nehmen am menschlichen Körper sieben runde Lichtzentren wahr, wie
leuchtende Perlen auf einer gedachten Linie entlang der Wirbelsäule aufgereiht, vom Steißbein bis hinauf zum Scheitel. Sie sollen sich radförmig bewegen. Diese Zentren werden als Wirbel, manchmal auch als vielblättrige Blüten beschrieben.
Die Chakras sollen zu einem von mehreren «feinstofflichen» Energiekörpern gehören, die unseren physischen Leib wie unsichtbare Schalen mit unterschiedlicher Ausdehnung umgeben und sich gegenseitig durchdringen: Sie werden dem sogenannten «Ätherkörper»
zugerechnet, der den physischen Leib belebt und erhält. Der äußere Rand dieses Energiefeldes soll fünf bis acht Zentimeter oberhalb unserer Haut liegen. Auf ihm liegen die Chakras, denen vier Funktionen zugeschrieben werden. Sie nehmen auf.- Durch sie strömt die kosmische Energie ein. Sie geben ab: Die empfangene Energie verteilen sie auf die inneren Leitbahnen des Ätherkörpers (anstatt von «Meridianen» sprechen Inder von «Nadis»), und damit mittelbar auch auf die verschiedenen Körperteile
und Organe. Sie verbinden: Über sie wirken die verschiedenen Energiekörper aufeinander sowie auf den physischen Leib ein. Und sie senden: Durch sie strahlen Menschen ihre geistig-spirituellen Schwingungen nach außen ab, auf andere Personen und die übrige Umgebung. Jedes Chakra soll eine stielartige Verbindung zur Wirbelsäule aufweisen. Aus verschiedenen Punkten des Rückgrats entspringen gleichsam Blütenstengel, deren Kelche sich zu den Chakras hin öffnen. (Außer den sieben Hauptchakras wollen
Hellsichtige über 120 kleinere Nebenchakras ausgemacht haben, die sich hauptsächlich in Höhe der Gelenke befinden?)
Jedes Chakra soll bestimmten Organen und Drüsen zugeordnet sein, aber auch bestimmten seelisch-geistigen Zuständen. Diese Zusammenhänge werden diagnostisch genutzt. So wollen Hellsichtige an der Bewegung der «Räder», an ihrer Ausdehnung, an der Intensität und Farbkombination ablesen können, was ihr Träger denkt, fühlt und empfindet - und in welchem Zustand sich seine
körperlichen Organe und Funktionen befinden. Wenn die Heilpraktikerin Ellen G., eine der bekanntesten Chakradiagnostikerinnen Deutschlands, etwa das Milz-Chakra «gelblich, bräunlich oder braunschwarz verfärbt» sieht, vermutet sie unter anderem «Verdauungsstörungen, Pilz- und Zahnfleischerkrankungen, niedrigen Blutzucker»; eine «graue, schwarze, schmutzigrote oder giftgrüne» Verfärbung des Stirn-Chakras zeigt für sie Störungen der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) oder des Hypothalamus an, eines
Gehirnteils, der lebenswichtige Funktionen wie Körpertemperatur, Atmung und Kreislauf steuert.
Gesundheit, als energetisches Gleichgewicht betrachtet, setzt voraus, dass die Chakras ein- und ausfließende Energie ungehindert durchlassen. Sind sie «blockiert» oder einseitig entwickelt, so wird der harmonische Energiefluss im Inneren gestört; halten diese Störungen länger an, so entsteht Krankheit. Als Sammelbegriff für eine Vielzahl von Bemühungen, solchen Blockaden vorzubeugen oder sie
zu beseitigen, hat sich die Bezeichnung «Chakra-Therapie» durchgesetzt. Je nachdem, welche Art von Störungen auftritt, werden die jeweiligen Chakras zu beeinflussen versucht. Viele Heiler legen dazu die Hände auf. Andere leiten ihre Klienten zu Imaginationsübungen an, bei denen sie ihre Chakras erspüren und durch geeignete Vorstellungsbilder beeinflussen lernen. Auch farbiges Licht, Düfte und Klänge, Pyramidenmodelle und homöopathische Mittel, Massagepraktiken wie Akupressur oder Shiatsu
können die Chakras angeblich günstig beeinflussen. Selbst technische Geräte werden neuerdings dazu eingesetzt.
Abgesehen von den subjektiven Eindrücken der Chakra-Therapeuten und Behandelten: Wie lässt sich der Erfolg solcher Behandlungen kontrollieren? Eine Möglichkeit besteht in Messungen an Akupunkturpunkten vor und nach der Behandlung: Werte, die anfangs ein pathologisches Geschehen anzeigten, sollten in den Normalbereich zurückkehren. Eine zweite Möglichkeit eröffnet die
Kirlian-Technik, ein von dem russischen Ingenieur Semjon Kirlian seit 1939 entwickeltes fotografisches Verfahren, das «aura»-ähnliche Leuchterscheinungen um Objekte sichtbar macht, die einem Hochfrequenzfeld ausgesetzt sind. Aber auch elektromagnetische Veränderungen in der Nähe der Chakras geben Aufschlüsse.
In vielen esoterischen Heilpraxen hierzulande ist die Chakra-Therapie zu einer bloßen Technik verkümmert, zu einer übersinnlichen Strahlentherapie für unsichtbare Kraftzentren.
Dadurch wird sie herausgelöst aus dem Kontext jenes komplexen Medizinsystems, in dem sie wurzelt, dem ältesten der Erde: dem Ayurveda (wörtlich: «Wissenschaft vom Leben», von Sanskrit ayur: Leben, und veda: Wissen). Der Ayurveda gehört zu den Veden, altindischen Schriften, die vor mindestens 2500 Jahren das gesammelte Wissen ihrer Zeit zusammenfaßten. Auf ayurvedischen Traditionen beruht noch heute ein Großteil der medizinischen Versorgung Indiens. Jahrtausende vor der
psychosomatischen Medizin des Westens definierte der Ayurveda Gesundheit bereits als Harmonie von Geist, Seele und Körper. Um sie zu erreichen, versuchen indische Ärzte nicht nur, die Chakras energetisch zu beeinflussen, sie setzen auch andere Verfahren ein, von Entspannungstechniken über spezielle Diäten und pflanzliche Arzneien bis zu «Panchakarma» (pancha: fünf; karma: Handlung), fünf «Ausleitungsverfahren» zu dem Zweck, Krankheiten regelrecht aus dem Körper herauszuziehen.
Dazu zählen absichtlich herbeigeführtes Erbrechen (Vamana), das Ausleiten von Giftstoffen mit Abführmitteln (Virechana), Einläufe oder Aderlässe.
Quellenangaben und weitere Literaturhinweise in Geistiges Heilen - Das Große Buch. |