Hätten Reiki, Schamanismus und andere Exporte aus fernen Kulturkreisen auch nur annähernd denselben Anklang in der hiesigen Esoterikszene gefunden, wenn sie erst vor ein paar Jahren von einem Bleichgesicht wie dir und mir in einer Berliner Altbauwohnung ausgeheckt und ohne ein einziges Fremdwort kolportiert worden wären? Zu jenen soziologischen Gesetzmäßigkeiten, welche im esoterischen Gesundheitsektor am zuverlässigsten erfüllt werden, zählt "das Epigonen-Theorem": Die Chance für eine unkonventionelle Heilweise, im Westen eine begeisterte Zuhörerschaft und hochmotivierte Nachahmer zu finden, wächst demnach exponentiell mit der Entfernung des Rezipienten von ihrem mutmaßlichen Ursprung, räumlich ebenso wie zeitlich. Je weiter weg es entstand, je ältere Wurzeln es zu haben scheint, desto mehr fasziniert es - angehende Heiler offenbar ebenso wie hilfesuchende Patienten -, zumal wenn es sich mit der Aura der "Geheimlehre" umgibt. Ein Großteil des Booms, den das "Huna-Heilen" im Westen seit den achtziger Jahren erlebt, rührt vermutlich von der Eindrücklichkeit eines solchen Mythos her. Von Hawaii stamme es, so heißt es, und sei die Perle einer Tradition, die schon mindestens 5000 Jahre zurückreiche. Was hat es damit auf sich?
Als der amerikanische Ethnologe Max Freedom Long in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Hawaii Feldforschung betrieb, lernte er Glaubenssätze, Prinzipien und Praktiken dortiger Medizinmänner kennen. Kein Eingeborener, sondern Long selbst war es, der sie unter der Bezeichnung "Huna" zusammenfasste, dem polynesischen Wort für "Geheimnis", wie er glaubte. (Tatsächlich bedeutet huna eher "verdeckt", womit nichts Okkultes oder Mysteriöses gemeint ist, sondern eher die "verdeckte", unsichtbare Seite der Dinge - ihre metaphysischen Aspekte, wie westliche Philosophen sagen würden.) Die Medizinmänner, als deren Bewahrer, nannte Long "Kahuna", wörtlich "Hüter (= Ka)
des Geheimnisses". Mündlichen Überlieferungen zufolge stammte dieses Huna-Wissen gar nicht von der Insel selbst, sondern war vor langer, langer Zeit von "zehn Stämmen" aus dem östlichen Mittelmeerraum mitgebracht worden. Long dokumentierte diese Fama, ohne sich zunächst einen Reim darauf machen zu können.
Im Jahre 1947 wurden in Israel, am Toten Meer, einige Kilometer nördlich von Masada die ersten von über vierzig "Rollen von Qumran" entdeckt: vom Zahn der
Zeit schon arg zernagte Fragmente von Schriften, in denen die Sekte der Essener ihre Lehre niedergeschrieben und versteckt hatte, vermutlich um das Jahr 50 nach Christus, auf der Flucht vor den römischen Invasoren. (Manche Bibelforscher mutmaßen, Jesus Christus könnte den Essenern angehört haben, wofür sich tatsächlich einige spärliche Belegstellen im Neuen Testament finden lassen.) Einem namhaften englischen Historiker, Sir George Trevelyan, fielen frappante Ähnlichkeiten zwischen
Huna-Lehren und Essener-Weisheit auf. Aber wie kam jüdische Religiosität zum Stillen Ozean? Ein weiterer englischer Geschichtsforscher, Hugh J. Schonfield, wies nach, dass Gruppen der Essener bis nach Damaskus, Afghanistan, Persien und weiter nach Indien gewandert sind. Zwar verliert sich dort ihre Spur - aber könnten sie ihre Weiterreise zu polynesischen Eilanden nicht von Indien aus per Schiff, Boot oder Doppelkanu angetreten haben? (Immerhin entstanden frühe jüdische Niederlassungen auch
in China und Japan.) Das historische Bindeglied schien gefunden - und damit ein Faszinosum geboren: Geheimlehre plus Jesus plus Hawaii plus Medizinmänner ergeben eine kaum widerstehliche Mixtur, deren Vermarktungserfolg hierzulande vorherzusagen noch nie eine fortgeschrittene prophetische Begabung erforderte. Dass immer mehr Geistheiler im deutschsprachigen Raum durch sie neu definieren, was sie tun - auch beim "Fernbehandeln" -, war nur eine Frage der Zeit.
Was die
Huna-Lehre inhaltlich zu bieten hat, ist von beeindruckender Schlichtheit, die Anhänger als angenehm "klar" empfinden, Skeptiker als reichlich naiv. Im Mittelpunkt steht ein Drei-Schichten-Modell des menschlichen Wesens: Es besteht aus einem "Unteren Selbst", einem "Mittleren Selbst" und einem "Hohen Selbst". Das "Untere Selbst" ist der Bereich des Unterbewussten, der Empfindungen und Emotionen. Das "Mittlere Selbst"
steht für das wahrnehmende, denkende Ich. Das "Hohe Selbst" gilt als das Göttliche in uns, jener Teil, der sowohl zum Menschen als auch zum Schöpfer gehört.
Diese drei Selbste - jedes von ihnen selbständig, individuell ansprechbar und erziehbar - fungieren nicht beziehungslos nebeneinander, sondern stehen in beständigem regem Austausch. Die "feinstoffliche" Verbindung zwischen ihnen stellt eine "Aka-Schnur" her, über die sie die Lebenskraft Mana austauschen,
welche wir mit der Nahrung und aus der Luft aufnehmen, der nicht Wasserscheue auch aus dem Meer. Dieses Mana ist schlechterdings allem förderlich, was wir lieber haben als nicht haben: vom blockadefreien Urinieren bis hin zu "Kraft und Selbstvertrauen". (Auch diese Bedeutung soll das Wort "Mana" haben.) Mit solchem Mana versorgt das "Niedere Selbst" die höheren Teile der Dreiheit. Krankheit entsteht, wenn der Mana-Fluss gestört ist - etwa durch fremde Geistwesen,
die Mana "absaugen", da sie es nicht selbst produzieren können (dann muss der Huna-Heiler sie bannen) oder dadurch, dass aufgrund von Blockaden zuwenig Mana zum "Hohen Selbst" fließt. (Dann "sendet" ihm der Huna-Heiler zum Beispiel ein mit Mana "aufgeladenes" geheimes Symbol.)
Neben diesem Trinititätsmodell ist im Huna-Wissen die Lehre von den "Fünf Werkzeugen" grundlegend. Allesamt dienen sie dazu, Störungen des Mana-Flusses zu
beheben. Dazu zählen Maßnahmen zur Steigerung der Mana-Produktion; die "Kala-Reinigung", eine geistige Übung zur blockadebrechenden Verbesserung des Charakters und zur Befreiung von ungesunden Gewohnheiten; spezielle Atemübungen, welche die Aufnahmefähigkeit für Mana erhöhen sollen; die Arbeit mit Licht als einer heilenden Energiequelle; und Visualisierungen, mit der magischen Macht, Realitäten zu gebären. Besagte Aka-Schnur verbindet nicht nur unsere inneren Selbste, sondern
auch Menschen, Tiere und Pflanzen miteinander. Dabei sind sie ausgesprochen "klebrig" (genau dies ist der Wortsinn des polynesischen Worts "aka"): Ein dünner Aka-Faden entsteht zwischen zwei Menschen schon dann, wenn sie einander in die Augen sehen und dabei Interesse aneinander zeigen. Auch bei einem Telefonat kann sich ein Aka-Faden entwickeln. Damit daraus ein reißfestes Seil wird, ist Übung erforderlich, wie die Kahunas lehren. Eben darauf sind Geistheiler aus:
"Allein schon mit der Berührung des Patienten haben sie eine Aka-Schnur hergestellt, die unzerstörbar ist" - "wichtig für die spätere Fernheilung".6 Dazu muss der Patient gar nicht leibhaftig präsent sein; es genügt schon, wenn dem Heiler eine Unterschrift oder ein Foto vorliegt, denn auch an diesen "klebt" der Aka-Faden des Klienten. Zur Erforschung und weltweiten Verbreitung der Huna-Lehren rief Max Freedom Long 1945 in den USA die "Huna
Research Inc." ins Leben, die bis heute in Cape Girardeau, Missouri, residiert. Als ihr offizieller Repräsentant in Europa fungiert seit 1981 der Schweizer Diplom-Ingenieur Henry Krotoschin, der als Leiter der "Huna-Forschungsgesellschaft" von Zürich aus die Huna-Lehren in Hunderten von Veranstaltungen im gesamten deutschsprachigen Raum verbreitet hat. Dabei bietet er drei Seminare an ("Huna-Praxis - Bewusste Lenkung des Schicksals", "Huna-Praxis - Bewusste
Lenkung des Schicksals", "Huna-Heilung - Jeder kann mit Huna heilen"), die für Gebühren zwischen 180 und 286 Euro binnen drei Tagen Neugierige in "Huna-Heiler" verwandeln. "Alle Seminare", so versichert Krotoschin auf seiner Website ausdrücklich, "sind für Anfänger geeignet. ... In jedem der drei Seminare können Sie alle Techniken und Kenntnisse erwerben, die für die praktische Anwendung der Huna-Lehre, besonders aber für den Kontakt mit Ihrem eigenen
Hohen Selbst (dem "Schutzengel") nötig sind. Sie sind nicht gezwungen, Zeit und Geld für Fortsetzungsseminare aufzuwenden." |