Ein christlicher Gebetsheiler oder Handaufleger von heute geht nicht anders vor als Jesus zwei Jahrtausende vor ihm. Und wenn Besprecher einer Warze oder Gürtelrose beizukommen trachten, verwenden sie dieselben Spruchformeln, die ihnen ihre Großmütter oder andere eingeweihte Vorfahren rituell "übergeben" haben. Wer daraus schließt, der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt sei an der Geistheilerei spurlos vorbeigegangen, der kennt das Orion
Healing noch nicht. Hier werden mutig Anleihen bei der Elektrophysiologie des Gehirns und der Genetik gemacht, kreativ verquickt mit der Esoterik von Chakra-Anatomie und Channeling, Mentalmagie und außerirdischer Intelligenz.
Als Begründerin des "Orion-Heilens" gilt die Amerikanerin Vianna Stibal. Nachdem Ärzte bei ihr unheilbaren Knochenkrebs im Endstadium festgestellt haben sollen, gelang ihr 1995 angeblich eine vollständige geistige Selbstheilung - mit einer neuartigen Behandlungsweise, die sie selber entwickelt haben will, auch wenn die entscheidenden Fingerzeige, wie sie glaubt, aus der Anderen Welt stammen. Was ihr "Jenseitige" während und nach ihrer beinahe tödlichen Krise diktierten, hat Stibal mittlerweile in zwei Büchern veröffentlicht, deren Titel als Weckrufe daherkommen: Go Up (Geh hinauf!) and Seek God und Go Up and Work With God.
Mit diesem Ansatz will sie bis 1999 in ihrer Praxis in Idaho Falls, US-Bundesstaat Idaho, bereits über 22'000 Klienten geholfen haben - unter anderem "bei genetischen Defekten, Hepatitis C, Epstein-Barr, Aids, Herpes, Tumoren, vielerlei Krebsarten und anderen Leiden, die zu zahlreich sind, als dass sie aufgelistet werden könnten". Auf ihrer Homepage zitiert Stibal, entsprechend zahlreich, aus zwei überschwenglichen Dankesbriefen von Behandelten, die nach einer einzigen Sitzung
bei ihr einen Morbus Parkinson bzw. ein ins Gehirn metastasiertes Melanom, bösartigen Hautkrebs, losgeworden sein wollen.
Wie "hinaufzugehen" und mit vollen Händen wieder herabzusteigen ist, bringt Vianna Stibal Interessenten binnen fünf Tagen in zwei aufeinander aufbauenden Kursen bei; nach einem viertägigen "Lehrer-Training" kann es ein Strebsamer dann schon zum zertifizierten Ausbilder bringen. Viannas "Practicioners" wirkten im Sommer 2003
bereits in 32 US-Bundesstaaten, aber auch schon in Kanada, Mexiko und Australien, in Island, Italien, Schottland und den Niederlanden. Um die Verbreitung im deutschsprachigen Raum kümmern sich die Wiener Malerin, Heilmasseurin und Reiki-Lehrerin Karin Eischer, Jg. 1969, sowie in Deutschland Claudia Bühler, Jg. 1967, eine Reiki-Meisterin, Yoga- und Gymnastiklehrerin mit ihrem "Institut für Körperharmonisierung" in Mutterstadt bei Ludwigshafen. In Speyer und Wien organisierten die
beiden jungen Damen im Herbst 2003 die ersten "Orion"-Kurse im deutschsprachigen Raum; dazu ließen sie aus Australien eine gewisse Sherada Nemeh einfliegen, eine Masseuse und Krankenschwester malayischer Abstammung, die zur Orion-Missionarin konvertierte, seit Vianna Stibal höchstpersönlich sie von "langjährigen Wirbelsäulenproblemen infolge eines Geburtstraumas" befreit haben soll.
Wie geht der "Orion-Heiler" vor? Auch bis zu ihm hat sich bereits
herumgesprochen, dass das menschliche Gehirn ständig Wellen unterschiedlicher Frequenzen produziert, die mit unterschiedlichen Bewusstseinszuständen korrelieren. Im Beta-Zustand (14-28 Hertz), dem normalen Wachzustand, sind wir aufmerksam und geistig aktiv, im Alpha-Zustand (7-14 Hertz) entspannt, ausgeglichen und innerlich ruhig; auf "Theta" (4-7 Hertz) schaltet das Gehirn in den Traumphasen des Schlafs, aber auch in Hypnose, Trance und tiefer meditativer Versenkung, während
"Delta" (1-4 Hertz) Tiefschlafphasen kennzeichnet. Ein Orion-Heiler bemüht sich zuallererst, willentlich sich selbst, aber auch seinen Klienten in den Theta-Zustand zu versetzen; denn erst darin, und nur dann, sollen die Heiltechniken wirken, die Vianna Stibal lehrt. (Daher ist auch von Theta Healing die Rede, ein Markenname, den Stibal selbst bevorzugt.) Diesem Theta-Zustand werden mystische Qualitäten zugeschrieben: In ihm stellt sich ein "tieferes, göttlich bewusstes Sein" ein, in dem "die göttliche Quelle" von Weisheit und Kraft unmittelbar zugänglich wird.
Getreu dem Bibelspruch "Geh hinauf und verlange nach Gott" zieht es Orion-Heiler bei Behandlungsbeginn himmelwärts: Sie visualisieren, wie sie "ca. 90 cm über den eigenen Kopf steigen, in Höhe des neunten Chakras". (Wie dort überhaupt eines sein kann, wird ein paar Buchseiten weiter klarer werden.) "Je nach Präferenz" kann man aber auch gleich höher hinaus, "auf 180 oder 2010 cm", denn "auf einer Höhe von etwa 20 Metern befindet sich der Bereich der absoluten, bedingungslosen Liebe. In dieser Höhe durchbrichst Du das elektromagnetische Feld der Erde. Wenn Du diesen Ort erreichst, empfängst Du die Liebe des Universums und wirst durch diese in Deinen Heilungen unterstützt." Dort angekommen, "verlangst Du nach Gott", und im selben Moment "wechseln Deine Gehirnströme in den Theta-Zustand", wie eine Infomappe versichert. Während sich der Orion-Heiler weiterhin über dem eigenen Kopf visualisiert, hat er nun "in Gedanken" acht Schritte zu tun:
1. die Anrufung: "Vater, Mutter, Gott, Schöpfer, oder Deine eigenen Worte für das Göttliche".
2. die Order: "Ich befehle/ordere (command)
die Heilung dieser Person X", gegebenenfalls mit Angabe des zu heilenden Bereichs, "zum Beispiel Herz oder Knochen". (Ob der Chancen, dass therapeutische Bestellungen in solchem Befehlston göttlicherseits bevorzugt behandelt werden, dürften Theologen eher schwarz sehen.)
3. "Danke!"
4. die Vollzugsmeldung: "Es ist vollbracht (done). Es ist vollbracht. Es ist vollbracht."
5. die Vergewisserung. "Gehe durch das Kronenchakra in den Körper
des Klienten zu dem Bereich, wo die Heilung stattfindet, und visualisiere dort die perfekte Heilwerdung." Dieses aktive "Dirigieren" der Heilenergie halten Orion-Heiler, im Unterschied zu anderen esoterischen Therapierichtungen, für unabdingbar; denn der Körper des Klienten "weiß nicht von alleine, welcher Bereich erkrankt ist und wo die Energie hingehen soll. Wenn beispielsweise ein Knochen verschoben werden soll, stelle Dir vor, dass Du direkt zur Stelle gehst,
verschiebe dort den Knochen und sieh, wie es vollbracht ist."
6. der Rückzug: "Nachdem die Heilung vollendet ist, visualisiere, wie Du den Körper der Person durch das Kronenchakra wieder verlässt."
7. die Reinigung: "Visualisiere, wie Du Dich in einem Wasserstrahl duschst, z.B. unter einem Wasserfall."
8. "Gehe zurück zu Deinem Platz."
Nicht jedes Leiden hat lokalisierbare Ausgangspunkte und Symptome, wie beispielsweise ein Geschwür, eine
Lungenentzündung, ein Tennisarm oder Tinnitus; manche sind nur dem Patienten als ganzem zuschreibbar, wie etwa chronische Erschöpfung. Wie geht der Orion-Heiler in solchen Fällen vor? "Gibt es kein spezielles Problem, so kann eine Extraportion Liebe in jede Zelle des Klienten gesandt werden. Beginne am Haupt und sende die Energie durch jede Zelle des Körpers. Die meisten Menschen haben nie zuvor bedingungslose Liebe erfahren. Daher rechne damit, dass Klienten buchstäblich zusammenbrechen
können und heulen, wenn sie diese Liebesenergien erleben dürfen."
Noch "kraftvoller" als Einzelsitzungen sollen Orion-Gruppenheilungen sein. Dabei versammeln sich mehrere Heiler um den Klienten, der unterdessen auf einer Liege oder einem Tisch liegt. "Wichtig ist, dass keiner an den Füßen steht", nicht etwa zur Vermeidung nasaler Missempfindungen in Sockennähe, sondern weil "die negativen Energien üblicherweise durch die Fußsohlen entweichen". Nun "gehen" alle Mitglieder der Heilgruppe "in Gedanken die 2010 cm nach oben" und konzentrieren dort ihre Energien. Diese "bringt der Leiter zusammen, leitet sie zu der Person” (d.h. dem Behandelten, Anm.d.A.) “hinab und visualisiert, wie diese Energien in die Person fließen." Anders als bei Reiki "channelt er die Heilenergien nicht durch seinen Körper und danach in den Klienten. Die Energien werden direkt zum Klienten gesandt." Nur der Gruppenleiter darf dies: Außer ihm "visualisiert kein weiteres Mitglied der Gruppe die Heilung an sich, da sonst mehrere unterschiedliche Botschaften den Körper des Klienten erreichen und verwirren."
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