Seit mindestens 4500 Jahren richten chinesische Heilkundige ihr Augenmerk auf Qi (alte Schreibweise: Chi; gesprochen: «Tschie»): eine unsichtbare Lebensenergie, die keineswegs außerhalb der Natur steht wie der «Geist» im philosophischen Denken des Westens, sondern deren Gesetzen ebenso unterworfen ist wie alle anderen Energien und Substanzen. Im Unterschied zu bekannten Energieformen durchdringt diese Vitalkraft allerdings jegliche Barrieren; beliebige Entfernungen überwindet sie in Bruchteilen einer Sekunde, ohne sich dabei abzuschwächen. Es gibt «kosmisches» Qi, welches das gesamte Universum erfüllt. Außerdem wird alles Lebendige von «individuellem» Qi durchdrungen. So hat jede Pflanze, jedes Tier, auch jeder Mensch sein spezielles Qi, ebenso wie jedes seiner Organe.
Diese Energie durchströmt unseren Körper in einem Netz von vorgegebenen Leitbahnen, den Meridianen. Unsere Gesundheit hängt davon ab, ob diese Meridiane offen sind, ob genügend Energie durch sie fließt und sich in ihnen gleichmäßig verteilt. Krankheit entsteht, wenn der Energiefluss gestört, aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dazu kann unausgewogene Ernährung ebenso beitragen wie flaches, unruhiges Atmen, verkrampfte Körperhaltung, mangelnde Bewegung - und falsches Denken.
In der taoistischen Tradition werden Harmonie und Ungleichgewicht von Qi durch die Lehre von Yin und Yang gedeutet: zwei gegensätzliche, universale Kräfte, die zusammen ein dynamisches Ganzes bilden, vergleichbar dem positiven und negativen Spannungsfeld einer elektrischen Ladung. Yin wird assoziiert mit dem Ruhenden, Dunklen, Kühlen und Inneren; Yang wird dagegen mit dem Aktiven, Hellen, Warmen und Äußeren in Verbindung gebracht. Bestimmte Körperabschnitte und Organe haben eher Yin- oder Yang-Qualität. Chinesische Mediziner ordnen beispielsweise Magen, Darm und Blase dem Yin zu, während Lunge, Leber, Milz, Nieren und Herz eher das Yang-Prinzip verkörpern. Auch die Meridiane werden in Yin und Yang unterteilt. Energiearbeit mit Qi zielt darauf, Yin- und Yang-Aspekte in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
Ein wichtiges Vehikel des Qi ist die Vorstellungskraft: Durch entsprechende Konzentration lässt es sich in bestimmte Organe und Körperbereiche lenken; es lässt sich verdichten, und es kann vom eigenen Körper auf andere übertragen werden. Man kann Qi über das Atmen und die Nahrung oder auch direkt über die Körperoberfläche aus dem Kosmos aufnehmen; und man kann altes, verbrauchtes Qi abstoßen. Wie die «Seele» westlicher Philosophen und Religionsstifter, so gehört es zum Wesen von Qi, weder zu altern noch zu sterben. Im Augenblick des Todes tritt es aus dem Körper und setzt sich wieder neu zusammen, um in andere Körper einzutreten.
Geistiges Heilen in China: Therapeutisches Qi Gong
Die Kunst, den Qi-Energiefluss bewusst zu lenken, heißt Qi Gong (wörtlich: «systematisches Arbeiten mit Qi»). Darunter fällt eine Vielfalt von yogaähnlichen Konzentrations-, Atem-, Haltungs- und Bewegungsübungen, die dazu dienen sollen, das Qi in den Körper zu leiten, Störungen im Qi-Fluss zu beseitigen und auf diese Weise Gesundheit zu erhalten oder
wiederherzustellen. Vermutlich entwickelte sich Qi Gong um 2500 v. Chr. aus einem rituellen Tanz, der Muskelschmerzen und Hautkrankheiten abwehren sollte. Noch zu Beginn dieses Jahrhunderts praktizierten es meist nur Gelehrte, Mönche und Einsiedler. Erst in den fünfziger Jahren drang es in breite Bevölkerungsschichten vor, und mehrere Qi-Gong-Sanatorien und -Forschungsinstitute wurden eröffnet. Dieser ersten Blütezeit setzte die kommunistische Kulturrevolution, die Qi-Lehren als religiöses
Blendwerk abtat, ein jähes Ende: Die Sanatorien wurden geschlossen, viele berühmte Qi Gong-Meister wurden verfolgt und hingerichtet. Von diesem Rückschlag begann sich die Bewegung erst gegen Ende der siebziger Jahre allmählich zu erholen. Damals liefen die ersten staatlich geförderten Forschungsprojekte an, in denen Naturwissenschaftler das Qi experimentell nachweisen und auf bekannte physikalische Energien wie Elektrizität oder Magnetismus zurückführen sollten; so konnte dem Qi ein Platz im
offiziellen Weltbild des Materialismus zugewiesen werden, womit es für Parteifunktionäre akzeptabel wurde. (Eine ähnliche Entwicklung nahm die Psi-Forschung in der Sowjetunion.) Daraufhin lockerte der Staat seine restriktiven Bestimmungen mehr und mehr. Heute bestehen in China wieder über Zoo offiziell eingetragene Qi-Gong-Schulen. Regelmäßig erscheinen mindestens acht populärwissenschaftliche Zeitschriften über Qi Gong. Eine wahre Flut von Publikationen wird ihm gewidmet: Während es im Jahre
1979 nur 13 Veröffentlichungen pro Jahr waren, stieg die Zahl der Neuerscheinungen bis 1988 auf 831. Zehn nationale und mehrere regionale Vereinigungen widmen sich der wissenschaftlichen Untersuchung des Qi. Über fünfzig Millionen Erwachsene praktizieren Qi-Gong-Übungen, allen voran Pekings graue Eminenz Deng Xiaoping: sei es zur allgemeinen Gesundheitspflege, zur Prophylaxe, zur Unterstützung von Hei¬lungsprozessen oder zur Nachsorge.
Dabei werden Übungen in Bewegung (Dong Gong) und Übungen in Ruhe (Jing Gong)
unterschieden. «Ruhendes» Qi Gong besteht größtenteils aus stillen, meditativen Übungen, in denen der Fluss des Qi allein durch die Vorstellungskraft angeregt wird. «Bewegtes» Qi Gong schließt darüber hinaus körperliche Übungen ein; am bekanntesten ist im Westen das Taiqi (alte Schreibweise: Taichi).
Welche Macht die geistige Kontrolle über Qi verleihen kann, sofern sie täglich mehrere Stunden über Jahre hinweg trainiert wird, führt das «harte» Qi Gong vor Augen, der Einsatz von
Qi zur Verteidigung gegen Angriffe, wie etwa im Kampfsport Kung Fu. Im sagenumwobenen Shaolin-Kloster lernen Adepten, Qi in einem Maße zu beherrschen, das sie zum sogenannten «Eisenhemd-Qi-Gong» befähigt: Durch bestimmte Übungen, in denen sie Qi «verdichten», sollen sie einen unsichtbaren Panzer aufbauen können. Die Fäuste und andere Körperstellen werden dadurch buchstäblich zu Stahl gehärtet. Ohne Schaden zu nehmen, lassen sich Meister dieser Kunst dann von einer tonnenschweren Baumaschine
überfahren, hängen sich stundenlang am Hals an einem Ast auf oder stemmen ihren Körper einen Tag lang auf einzelnen Fingern hoch.
“Weiches” Qi Gong zur Selbstheilung
Weitaus verbreiteter ist im Volk dagegen «weiches» Qi Gong: Übungen zum Zweck, den Körper zu kräftigen, Krankheiten zu beseitigen und das Leben zu verlängern. Auch solche Übungen setzen, wissenschaftlich belegbar, erstaunliche
Veränderungen in Gang. Stoffwechsel, Kreislauf und Immunsystem werden messbar gestärkt; Herzfrequenz, Atemrhythmus und Proteinstoffwechsel verlangsamen sich; die Produktion bestimmter Hormone wird verringert; Zellen leben länger. So berichtete die Zeitschrift für Traditionelle Chinesische Medizin 1986 über eine Langzeitstudie, bei der 244 Patienten mit Bluthochdruck bis zu 22 Jahre lang beobachtet wurden; wer unter ihnen regelmäßig Qi Gong praktizierte, senkte sein Risiko, einen Schlaganfall
zu erleiden, ganz erheblich. Wie der Medizinprofessor Yan Xuanzou von der Pekinger Hochschule für Traditionelle Chinesische Medizin nachwies, erhöhen Menschen, die täglich vierzig Minuten lang Qi Gong praktizieren, beträchtlich ihre IGA-Werte (ein aus dem Speichel entnommenes Immunglobulin), und ihre Lysozyme - Enzyme, welche die Zellwände von Bakterien zerstören - sind deutlich aktiver. Diese beiden Indikatoren für ein intaktes Immunsystem veränderten sich dagegen nicht bei einer
Kontrollgruppe von Testpersonen, die sich an den Qi-Gong-Übungen nicht aktiv beteiligt hatten.
Kranke mit Qi behandeln
Aber Qi soll auch willentlich auf andere abgestrahlt werden können: Darin besteht die Kunst des Waiqi. Von Meistern des Qi Gong wird behauptet, sie besäßen eine vollständige Kontrolle über diesen Energietransfer. Angeblich sind sie imstande, ihr persönliches Qi bewusst «auszusenden» und wieder
zurückzuholen; sie können ihm befehlen, den Körper für immer zu verlassen - und damit willentlich ihren eigenen Tod herbeiführen. Mit ihrem Qi, so wird ihnen nachgesagt, durchdringen sie den Körper anderer Menschen; am zurückströmenden Qi «lesen» sie ab, ob Körperfunktionen gestört oder in Ordnung sind. «Schlechtes» Qi «ziehen» sie aus Kranken «heraus». Sie vermögen einen ganzen Raum mit Qi zu füllen - und dadurch mehrere Patienten zugleich zu behandeln. Es heißt, dass sie mit ihrer Kunst
beinahe jede Krankheit heilen, von Lähmungen über Herzleiden bis hin zu Krebs.
Entlang der Meridiane sollen bestimmte Punkte liegen, an denen Störungen des Qi-Energieflusses reguliert werden können. Während Akupunkteure solche Punkte mit Nadeln anstechen, setzen Waiqi¬-Meister ganz auf die Übertragung von Heilenergien mittels genau festgelegter, ritueller Bewegungs- und Konzentrationsabläufe. Außenstehende nehmen lediglich wahr, wie der Heiler über seinem Patienten eigenartige
Handbewegungen ausführt oder ihn an bestimmten Körperstellen leicht berührt. Ein Reporter der New York Times, Edward Gargan, erlebte 1986 mit, wie ein Pekinger Qi-Gong-Meister einen Gelähmten behandelte: «Die Hände des Arztes erkunden zunächst langsam die Luft vor dem Patienten, so als klopften sie ein unsichtbares Kissen. Allmählich beginnen sie ein stilles Menuett, drehen sich und wirbeln umher. Dann klopfen seine Hände eine unsichtbare Teigmasse und streichen über eine ebenfalls
unsichtbare Oberfläche. Vor ihm auf dem Tisch liegt der Patient mit geschlossenen Augen. Langsam hebt sich ein Bein, so als würde es auf die Bewegungen des Arztes reagieren. Danach heben und senken sich die Arme und Beine des Patienten eine Viertelstunde lang, während der Arzt an der Luft zieht und drückt.» |