In der christlichen Tradition ist Heilen weitaus mehr als bloß eine medizinische Intervention. Aber auch mehr als das Hinzuziehen eines Dr. med. Deus, der weiter weiß, wenn irdische Medicusse mit ihrem Latein am Ende sind. Heilen stellt einen Akt der Liebe dar, und erst als solcher beginnt durch ihn eine göttliche Kraft zu wirken. So praktizierte und lehrte es Jesus. In der heutigen Heilerzene wird dieses Verständnis noch zugespitzt: Heilen ist Liebe, zumindest wenn sie
in ihrer reinsten Form zuteil wird: aufrichtig, tief, an keinerlei Bedingungen geknüpft, nichts und niemanden ausschließend.
Die Liebenden - Fernheilen mit dem höchsten aller Gefühle
Ein literarisches Manifest dieser Gesinnung ist die um 1990 erschienene Aufsatzsammlung Was ist heilen?. Ein amerikanisches Autorenteam, Richard Carlson und Benjamin Shield, ließ darin 28 prominente Heiler,
sympathisierende Ärzte und wissenschaftliche Experten in kurzen Essays erläutern, worin ihres Erachtens das Wesen Geistigen Heilens besteht. "Liebe ist der Heiler", fassen die Herausgeber einleitend den Grundtenor der meisten Beiträge zusammen. "Liebe wird als der kleinste gemeinsame Nenner betrachtet, der jeder erfolgreichen Heilung zugrunde liegt und alle wirkungsvollen Heilmethoden unterstützt. Ohne Liebe gibt es keine wirkliche Heilung." "Es ist die Liebe, die heilt", lehrt eine der geachtetsten Heilerinnen unserer Zeit, die in der Schweiz lebende Niederländerin Pamela Sommer-Dickson, in meiner Anthologie Geistiges Heilen für eine neue Zeit - Vom "Wunderheilen" zur ganzheitlichen Medizin - "eine ganz starke, aber auch ganz fein schwingende Energie, die uns berühren kann, wenn wir bereit sind, unsere Herzen zu öffnen und uns selbst anzunehmen (...) Dann erleben wir, wie sie Wunder wirken kann."
Diese Art von Liebe sei keineswegs bloß eine menschliche Emotion neben anderen, heißt es. Sie stelle eine Kraft dar, die keine Grenzen kenne und alles miteinander verbinden könne, egal wie weit räumlich voneinander entfernt: zum Beispiel auch einen Fernheiler und seinen Patienten. Dieselbe Kraft sei es letztlich, welche die ganze Schöpfung durchdringe, ordne und stetig weiterentwickle: Gott, die universelle Liebe. Wer heile, nehme an ihr teil.
Und genau darin liegt nach Auffassung vieler Geistheiler das ganze Geheimnis dessen, was sie tun: Sie heilen jemanden, indem sie sich ihm in wahrer Liebe zuwenden. Als "Kraft", "Energie", "Gedankenform" entwickle diese Liebe ein metaphysisches Eigenleben, in dem sie von selbst ihr Ziel erreichen könne. Zu ihren prominentesten Propagandistinnen zählt derzeit die Heilerin Nina Dul, die 1986 aus Polen nach Hamburg zog; dreiviertelstündige Fernsehporträts in ZDF und dem Kulturkanal "arte" machten sie schlagartig auch im deutschsprachigen Raum bekannt, bescherten ihr 15'000 Zuschriften - und ausgebuchte Seminare, in denen sie "Einweihungen in die Magenta-Energie" vornimmt. Magenta ist, neben Weiß, diejenige Farbe, welcher die Hellsichtige in der Aura von "spirituell hochentwickelten Menschen" gewahr wird - "die Farbe der selbstlosen Liebe". Initiierte sollen imstande sein, "die Liebesenergie an Menschen zu senden, die sie brauchen, aber auch in Kriegsgebiete. Man kann die Liebe überall hinschicken, wo sie gebraucht wird", und "in die ganze Welt verteilen".
Um diese mysteriöse "Liebesenergie" rankt sich inzwischen eine Menge esoterischer Pseudophysik. Wie allem Geistigen, so wird auch Liebe als "Schwingung" höherer Art betrachtet, der eine eigene "Frequenz" zugeschrieben wird. Deren Wirksamkeit im Heilprozess soll der "Heart Tuner" des Amerikaners Dan Winter, ein verfeinerter Elektrokardiograph, in Herzrhythmen nachweisen können.
Unter Heilern universell ist die Idee der "universellen Liebe" als therapeutisches Fortissimo indes durchaus nicht. Bei einem russischen "Bioenergotherapeuten", einem chinesischen Qi-Gong-Meister steht das kunstvolle Handhaben eines außergewöhnlichen Typs von durchaus natürlicher Energie im Vordergrund; spiritistische Heilmedien sind eher mit Kontaktnahmen zu jenseitigen Geistern beschäftigt, als eigene Emotionen zu kultivieren. Und auch ein theosophisch durchdrungener "Esoterischer" Heiler ist davon überzeugt, dass sich Heilung "nicht durch einfaches Ausströmen von Liebe einstellt", sondern erst durch "die vollendete Beherrschung einer exakten Wissenschaft zustande kommt", die "den Geist, nicht die Emotionen verwendet". Es ist eine von überschwenglichem Altruismus durchdrungene Fraktion innerhalb der westeuropäischen und nordamerikanischen Heilerszene, in der sich das Konzept der "Liebesenergie" enormer Beliebtheit erfreut. Ein Gutteil dieser besonderen Faszination rührt daher, dass in ihm die Botschaft Jesu, buddhistische Alltagsethik und fernöstliche Energiemedizin anscheinend zu einem Ideal verschmelzen, das sich vorzüglich eignet, die romantischen Neigungen von Heilern zu befriedigen, denen es andernfalls an persönlicher Erfüllung mangeln würde. Wer sich dieses Ideal aneignet, fühlt sich gut, kommt Gott näher und meint obendrein verstanden zu haben, was er tut.
Doch in Wahrheit beinhaltet es eine fragwürdige Hypothese: “Heiler sind um so erfolgreicher, je aufrichtiger und inniger sie ihre Patienten lieben.” Klinische Studien hierüber stehen zwar noch aus. Aber schon ein distanzierter Blick auf die alltägliche Heilerpraxis findet nur bedingt Bestätigungen dafür sie. In der Szene wimmelt es von Heilern, die ihren Klienten allerwärmste Empfindungen entgegenbringen - und dabei niemandem etwas vormachen, sondern es voller Inbrunst ernst meinen. Trotzdem bringen sie vielfach frustrierend wenig bis nichts zustande. Andererseits gehen etliche Heiler mit Hilfesuchenden eher unterkühlt um, sind wortkarg und beschränken sich weitgehend aufs Nötigste, nämlich die "Energieübertragung" - und sind mit diesem Stil allem Anschein nach häufig erfolgreich: darunter der Engländer Geoffrey Boltwood, der israelische Arzt und Heiler Dr. Eli Lasch, der Grieche Christos Drossinakis, der Philippino William Nonog. "Ich mag fremdes Leid erst gar nicht an mich heranlassen", sagt Boltwood. "Mein Mitleid hilft nicht wirklich, meine Arbeit würde es bloß behindern und mich belasten."
In Szeneblättern und bei Heilertreffen hat die Debatte darum, welcher dieser Heilstile der wahre sei, inzwischen Züge eines Religionskriegs angenommen, in dem reichlich Moralin zum Einsatz kommt. Wer es an "göttlicher Liebe" fehlen lasse, erziele allenfalls "oberflächliche" und "kurzfristige" Behandlungserfolge, heißt es - eine vorerst unbelegte Unterstellung. Zwar fanden vereinzelt schon Laborversuche mit Heilern statt, in denen die Auswirkung verschiedener Geisteshaltungen auf Reaktionen von Targets wie isolierten Krebszellen oder Bakterien untersucht wurde. Dabei zeigte sich hin und wieder stärkere Effekte, wenn Heiler mit liebevoll-fürsorglichen als aggressiv-zerstörerischen Vorstellungen arbeiteten. Andere Studien indes haben diese Befunde nicht bestätigen können. "Je größer die Liebe, desto besser der Heiler" steht heute weniger fundiert da, als es "Je größer der Kopf, desto intelligenter der Mensch" zu Zeiten Francis Galtons war, eines Halbvetters von Charles Darwin, der wenigstens eines schon beibrachte: reichlich Messergebnisse.
Der Einwand, vielen mit Liebe überschütteten Klienten gehe es oftmals anschließend ebenso elend wie vorher, wird vorzugsweise mit dem Argument gekontert, in solchen Fällen sei die Liebe eben nicht "rein" genug gewesen, weswegen der Heiler noch weiter an sich arbeiten müsse; oder der Behandelte sei unfähig, Liebe anzunehmen - was gerne darauf zurückgeführt wird, dass seine Liebesfähigkeit überhaupt limitiert sei, nicht nur in bezug auf Andere, sondern auch was ihn selbst betrifft. Derart aus der Luft gegriffene Psychodiagnostik produziert nicht nur Leerformeln, welche eine bestimmte Heilerideologie gegen jegliche Zweifel immunisiert. Sie wälzt die Verantwortung für ein Scheitern der Therapie letztlich auf den Klienten ab. Wenn er Pech hat, verlässt er die Heilerpraxis dann in doppeltem Elend: Nicht nur ist er weiterhin krank - er muss sich dafür nun auch noch schuldig fühlen. Geliebt zu werden, ist fast immer eine feine Sache. Aber Heilung ist damit alles andere als garantiert, wie feinstofflich höchstschwingend sie auch von Herzen kommen mag. Wieso das Liebesideal gerade in der westlichen Esoterikszene so emphatisch betont, ja geradezu vergöttert wird, hätte durchaus eine tiefenpsychologische Betrachtung verdient. Esoterik schließt die Ideologie einer insgeheimen, umfassenden Verbundenheit zwischen uns allen ein, die jegliche raumzeitlichen Grenzen sprengt. Telepathische Brücken, morphische Felder, Aura-Kontakte, Schwingungsresonanzen, karmische Bande über viele Inkarnationen hinweg: all dies schweißt uns angeblich zusammen, wer, wo und wie immer wir sind. Eben hierin liegt ein Schlüssel zur Antwort auf die Frage, wie die Esoterikbewegung ausgerechnet Ende des zweiten Jahrtausends ausgerechnet in der westlichen Welt Furore machen konnte. Sie ist ein romantischer Abwehrreflex auf den schmerzlichen Verlust von sozialer Gemeinschaft, auf die Atomisierung des öffentlichen Raums in Miniparzellen von egozentrischen Selbstverwirklichern. Je isolierter du bist, desto zugehöriger musst du dich fühlen, um nicht psychisch vor die Hunde zu gehen. Esoterik drängt sich dann als ein verführerisches Angebot zur Selbsttherapie gegen Vereinsamung auf.
Die Sehnsucht, von einer Gemeinschaft anerkannt, aufgenommen und in ihr geborgen zu sein, hat letztlich genetische Wurzeln: Nur in der Gruppe konnte die menschliche Art im Überlebenskampf bestehen, der auf diesem Planeten seit Jahrmillionen tobt. Unser Erbgut sieht für uns eine Existenz als Herdentier vor; ein Dasein außerhalb löst einen von Hunger, Angst und Schmerz begleiteten Mangelzustand aus, der längerem Nahrungsentzug durchaus ähnelt. Wer diesen evolutionsbiologischen Hintergrund mitbedenkt, versteht die überbordende Sozialromantik der New-Age-Bewegung
besser: Die Idee, wir alle seien stets und überall miteinander in Liebe vereint, erwächst aus der andauernden Frustration jener angeborenen Sehnsucht in der individualisierten Gesellschaft unserer Zeit. Kompensiert sie nicht eine alltägliche Erfahrung von Lieblosigkeit?
Quellenangaben und weitere Literaturhinweise in Fernheilen, Band 1. |