Einäugigen ausgeliefert: eine Warnung an Patienten
Auf eine «Fluch- und Lärmtherapie» gegen Quälgeister schwört der amerikanische Psychologe Robert Baker, Inhaber eines Lehrstuhls an der Universität von Lexington, Kentucky: Er bannt sie mit wüsten Beschimpfungen, Verwünschungen - und dröhnender Rockmusik."
Derart unkonventionelle Methoden helfen vielen Menschen, die sich besessen
fühlen, rascher und nachhaltiger als jede medizinische Maßnahme. Warum sollte sie ihnen vorenthalten werden? Was in der Auseinandersetzung um den Exorzismus, wie um geistiges Heilen allgemein, dringend not tut, sind eine gehörige Portion Pragmatismus und Methodenpluralismus. Die entscheidende Frage ist doch: Was nützt dem Patienten, was verschafft ihm schnellstmöglich und anhaltend Erleichterung? Nur darum sollte es Helfern gehen, und zu diesem obersten Ziel sollte kein Mittel von vornherein
ausgeschlossen werden. Ein rares Beispiel für eine solche Haltung boten 1977 drei amerikanische Wissenschaftler: In einer angesehenen Fachzeitschrift für Verhaltensforschung berichteten sie, in aufgeschlossener Distanz, über die erstaunliche «Rückverwandlung» eines unglücklichen Transsexuellen. Seit seiner Kindheit hatte sich john als Frau gesehen, nannte sich «Julie» und hatte nach allen psychologischen Tests längst eine weibliche Identität angenommen. Allerdings litt er darunter. Oft
klagte er über ein dumpfes Gefühl, «etwas Fremdes» erlaube ihm nicht, seine Männlichkeit auszuleben. Kurz vor der entscheidenden operativen Geschlechtsumwandlung geriet er an einen Arzt, der keine Berührungsängste mit exorzistischem Gedankengut kannte. Eine Austreibung brachte 22 «böse Geister» zum Vorschein. John warf sämtliche Frauenkleider fort, schnitt sich die Haare kurz - und wurde wieder John. Dabei blieb es, ohne Rückfall. Nach Ansicht der Autoren «kann nicht geleugnet werden, dass
ein Patient, der eindeutig als transsexuell galt, in bemerkenswert kurzer Zeit eine anhaltend männliche Geschlechtsidentität wiedererlangte - und das infolge eines Exorzismus».
Was es Menschen mit Besessenheitssymptomen bis heute geradezu unmöglich macht, wirkungsvolle Hilfe zu finden, ist die Tatsache, dass sowohl Psychiater als auch Exorzisten Besessenheit und Psychose als Gegensätze betrachten, die einander ausschließen. Sobald Spukvorgänge oder andere paranormale Geschehnisse auf
Einwirkungen von «Jenseitigen» hindeuten, wähnen sich Exorzisten allein zuständig. Sobald andererseits seelische Störungen auffallen, scheint eine rein psychologisch-medizinische Zugangsweise angebracht.
Zwischen Besessenheit und Psychose
Doch beide Seiten betrachten das Phänomen einäugig. Denn die Frage «Besessen oder psychotisch?» ist falsch gestellt. Sie unterstellt einen Gegensatz, wo in Wahrheit fließende
Übergänge bestehen. Der Begriff «Besessenheit» deckt überaus heterogene Krankheitsbilder ab, bei denen organische, psychische, soziale und jenseitige Ursachen in recht unterschiedlichem Maße mitspielen können, mit ständig wechselnden Anteilen und einer schwer durchschaubaren Eigendynamik, in der sie sich wechselseitig verstärken. Fälle von Besessenheit liegen auf einem Kontinuum zwischen zwei Extremformen. Das eine Extrem bilden Fälle, in denen der anscheinende Angriff eines Fremdwesens mit
solcher Macht erfolgt, dass selbst eine zuvor intakte Psyche ihr erliegt; das andere Extrem machen Fälle aus, in denen eine Psyche von vornherein derart aus dem Gleichgewicht gerät, mit Konflikten, Ängsten und Komplexen befrachtet scheint, dass sie wohl auch ohne «jenseitige» Einwirkung über kurz oder lang in eine Psychose abgedriftet wäre. Exorzisten und Psychiater neigen dazu, in Besessenheitsfällen stets nur diese beiden Extreme zu sehen, und erziehen ihre Patienten zu entsprechender
Selbstwahrnehmung; doch die allermeisten Fälle liegen irgendwo dazwischen.
Exorzisten müssen lernen, mit psychopathischen Anteilen zu rechnen. Müsste denn nicht jeder von uns zumindest zeitweilig besessen sein, da wir nach spiritistischer Überzeugung doch überall unentwegt von niederen Geistwesen und allerlei anderen schädlichen Energien umlagert sind? Wenn die wenigsten unter uns daran erkranken, so kann das nur einen Grund haben: Wir sind unterschiedlich prädisponiert dazu. Eine
übersteigerte Religiosität etwa, mit entsprechend ausgeprägten Ängsten vor tabuisierten Mächten, scheint dafür besonders empfänglich zu machen. (Anneliese Michel betete regelmäßig den Rosenkranz, versäumte bis zu ihrer Studienzeit keinen Gottesdienst, begleitete ihre Eltern auf Wallfahrten; in ihrer Studentenbude hingen religiöse Bilder und ein großer Weihwasserkessel.)
Und nicht nur der Ursprung, auch der weitere Verlauf der Erkrankung hängt entscheidend von psychischen Faktoren ab.
Denn unter dem Eindruck, im Griff eines unsichtbaren Fremdwesens zu sein, reagieren Betroffene durchaus unterschiedlich. Die einen integrieren dieses Bewusstsein allmählich in ein gefestigtes spiritistisches Weltbild, lernen damit umzugehen, entwickeln Techniken zum Dialog mit dem Eindringling und zu seiner Kontrolle - und verlieren dadurch weitgehend jegliche Angst. Sie wirken selbstbeherrscht und psychisch intakt. Die meisten professionellen Medien sind dazu imstande; ihr Beispiel lehrt,
dass Besessenheit nicht zwangsläufig ein Geisteszustand ist, der schleunigst beseitigt werden muss, um Gefahren abzuwenden; er ist abnorm, aber nicht immer pathologisch im Sinne einer behandlungsbedürftigen Erkrankung, die einen Menschen beeinträchtigt und leiden lässt. Die meisten Betroffenen reagieren allerdings eher mit Entsetzen und panischer Angst, und dies um so mehr, desto übermächtiger ihnen die Bedrohung erscheint. Gelegentliche Belästigungen veranlassen sie bereits dazu, einen
zwanghaften Verfolgungswahn zu entwickeln. So steigern sie sich allmählich in eine Lage hinein, in die sie das Fremdwesen allein vermutlich gar nicht hätte bringen können .
Auch unterschätzen Exorzisten oft die psychische Funktion, die Besessenheit für die Betroffenen spielen kann. Wie in allen Erkrankungen, so liegen auch in ihr nicht nur Not und Entbehrung, sondern auch ein subjektiver Gewinn: Sie verschafft Aufmerksamkeit, Mitleid, Zuwendung und Fürsorge. Sie bindet Bezugspersonen.
Sie entlastet von unangenehmen Verpflichtungen. Sie macht die eigene Person wichtig, wenn auch nur als auserkorenes Opfer einer höheren Macht, womit unter Umständen Minderwertigkeitsgefühle kompensiert werden. Auch erlaubt sie es, ungestraft und entschuldigt, «mit dem Teufel im Leib», «böse» Bedürfnisse auszuleben und zu befriedigen, die gewöhnlich unterdrückt werden müssen. Wegen dieses Gewinns hängen viele Besessene unbewusst an ihrem Zustand. (Bei einem berühmten Besessenheitsfall aus der
Mitte des vorigen Jahrhunderts, der Dienstmagd Gottliebin Dittus aus Möttlingen bei Pforzheim, vertrieb die aufopferungsvolle Fürsorge eines Pfarrers schließlich alle Symptome. «War hier Jesus der Sieger - oder persönliche Zuwendung?» fragt der Freiburger Psychologe Professor Johannes Mischo zu Recht. Das muss nicht bedeuten, dass die Motive allein die Krankheit erzeugen und somit der erlebte Fremdeinfluss fiktiv ist - es könnte aber zeigen, dass der Fremdeinfluss unterschwellig willkommen
war und dadurch überhaupt erst überhandnehmen konnte. Für die Therapie von Besessenen folgt daraus: Ihnen muss bewusst gemacht werden, welche psychischen Funktionen es erfüllen kann, einen fremden Geist in sich «hereinzulassen»; welche Bedürfnisse es befriedigt, welche Konflikte es löst. Kurzum: Man muss nicht an der Realität einer jenseitigen Bedrohung zweifeln, um psychotherapeutisch einzugreifen.
Andererseits sollte mit paranormalen Anteilen einer Erkrankung auch dann gerechnet
werden, achdem offenkundige psychische Störungen festgestellt worden sind: dies müssen Mediziner hinzulernen. Könnten solche Störungen denn nicht Folge paranormaler Vorgänge sein? Zu denken geben hier Fallbeispiele, die Jan Ehrenwald, ein aus der ehemaligen Tschechoslowakei stammender, in New York wirkender Psychiater und Psychoanalytiker, bereits in den dreißiger Jahren sammelte. Ihm fiel auf, daß viele Psychotiker - vornehmlich Hysteriker, Schizophrene und Paranoiker - zu außersinnlichen
Wahrnehmungen fähig waren; besonders empfänglich schienen sie für telepathische Eingebungen. Gesetzt den Fall, Telepathie wäre nicht nur zwischen Lebenden, sondern auch mit Totengeistern und anderen unkörperlichen Wesenheiten möglich: Deutet Ehrenwalds Fallsammlung dann nicht darauf hin, dass hinter einem Hauptmerkmal der Besessenheit tatsächlich eine reale Ursache stecken könnte, die Spiritisten zu Recht ernst nehmen? Um einen durchaus echten Erlebniskern, zum Beispiel eine befremdliche
«innere Stimme», könnte dann allmählich ein Wahngespinst gewoben werden.
Nur wer bereit ist, sich nicht an vorgefasste Theorien und gewohnte Methoden zu klammern, kann einem Besessenen auch dann noch helfen, wenn sie offenkundig versagt haben. Einen betroffenen Patienten bloß zu internieren und pharmazeutisch ruhigzustellen, ist keine ärztliche Kunst - sondern deren Bankrotterklärung.
Hätten insofern im Strafprozess um die Schuld an Anneliese Michels Tod nicht eigentlich die
behandelnden Ärzte mit auf der Anklagebank sitzen müssen? Es kam anders: Am 21. April 1978 verurteilte die Erste Große Strafkammer des Landgerichts Aschaffenburg die Eltern sowie die beiden exorzierenden Priester zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung und zur Übernahme der Prozesskosten - wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung. Denn die Angeklagten, so der Vorsitzende Richter, hätten wissen müssen, dass Anneliese ärztliche Hilfe brauchte. Aber hatte sie die etwa nicht
bekommen?
Quellenangaben und weitere Literaturhinweise in Geistiges Heilen - Das Große Buch. |