Nomen est omen stimmt nicht immer. Zur Gründung der Christian Science haben zuallerletzt wissenschaftliche Forschungen geführt - sondern anhaltendes gesundheitliches Elend und die tiefreligiöse Erziehung einer enorm willensstarken Frau, die 1821 als jüngstes von sechs Kindern auf einer Farm in Bow, US-Bundesstaat New Hamphire, geboren wurde: Mary Baker. Ihre Eltern sind Kongregationalisten; entsprechend puritanisch, einzig und allein der Heiligen Schrift
und dem eigenen Gewissen verpflichtet, ist die Frömmigkeit, mit der Mary groß wird. Gemeinsam mit ihrem Vater ergeht sich das frühreife Mädchen in theologischen Spekulationen, die hauptsächlich um die Frage nach Gesundheit und Heilung kreisen - aus persönlicher Betroffenheit. Denn seit ihrer Jugend plagt sich Mary mit allerlei chronischen Krankheiten herum. 1843 heiratet sie einen gewissen G. W. Glover, der bereits ein halbes Jahr nach der Hochzeit stirbt und sie mit einem Sohn, der drei
Monate später geboren wird, unversorgt zurücklässt. Weil sie gesundheitlich am Boden ist, muss sie das Kind von ihrer Familie versorgen lassen. Auch eine zweite Ehe ändert nichts an ihrem Unglück.
Da begegnet sie dem vom Mesmerismus geprägten Hypnotiseur Phineas P. Quimby (1802-1866). Fasziniert macht sie sich seine Ansicht zueigen, dass sich Krankheitsprozesse durch neue, positive Gedanken günstig beeinflussen lassen, während negative krank machen und bestehendes Leid noch verschlimmern können. Im Jahr 1866, kurz nachdem Quimby starb, schwebt sie nach einem schlimmen Sturz in Lebensgefahr. Im Krankenbett liest sie das Neue Testament - und dabei erlebt sie eine Spontanheilung. Vom selben Augenblick an soll sie imstande gewesen sein, Andere zu heilen; dabei besuchte sie Patienten manchmal nur wenige Minuten lang, um gemeinsam mit ihnen zu beten.
Geistige Heilung als ein Moment der Verkündigung Jesu (Mt 10, 18ff.) beginnt Mary Baker nun sendungsbeseelt zu lehren. Aber nur wenige Anhänger erweisen sich als zu ähnlich dramatischen Heilungen wie sie selbst fähig. Und so nimmt sie sich vor, ein Behandlungssystem auszuarbeiten, mit dem jeder erfolgreich sein würde, der es beherzigt. 1875, neun Jahre nach ihrer Spontanheilung, breitet sie es in ihrem monumentalen Werk Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift aus, das von Quimbys "Science of Health" und seiner Lehre vom "wahren Menschen" weitaus stärker beeinflusst ist, als ihre Jünger, dem Originalitätsanspruch Eddys zuliebe, einräumen wollen. Mittlerweile ist dieser Wälzer in 17 Sprachen verlegt und über zehn Millionen Mal verkauft worden. Die Women´s National Book Association der USA zählt ihn zu jenen "75 von Frauen geschriebenen Büchern, deren Worte die Welt verändert haben".
Heilungs"wunder", so erläutert Mary Baker Eddy darin, sind keine "übernatürlichen" Sensationen, sondern vollziehen sich nach den göttlichen Gesetzen; in ihnen manifestiert sich eine höhere Ordnung des Kosmos. Was ist Gott? "Unkörperlicher, allerhabener, unendlicher Geist (mind),
Seele, Prinzip, Leben, Wahrheit, Liebe" (Das vielschichtige mind wird in der deutschen Ausgabe von Bakers Schrift penetrant irreführend mit "Gemüt" übersetzt). Ein reiner Geist könne die unreine Materie nicht geschaffen haben; sie kann aber auch nicht vor, ohne und neben ihm immer schon dagewesen sein, denn "am Anfang war das Wort" aus dem Geist dahinter, nichts weiter; also stelle alles Materielle eine pure Illusion des Menschen dar. Auch könne Gott nicht in Menschengestalt erscheinen: "Ein unendlicher Geist in einer endlichen Form ist eine absolute Unmöglichkeit" - eine Behauptung, mit der Baker, zur Empörung der christlichen Kirchen, deren Jesuskult rigoros beiseite wischt. Ebensowenig könne Gott dafür verantwortlich gemacht werden, was uns innerhalb der materiellen Welt als Übel erscheint - auch Krankheit, Leiden, Schmerz und Tod sind infolgedessen rein illusionär. Wenn die Bibel den Menschen das Ebenbild Gottes nennt, so kann dies nur bedeuten, dass auch er seinem Wesen nach reiner Geist ist - und eben nicht aus Gehirn, Blut, Knochen und anderen materiellen Bestandteilen gemacht: "Der Mensch ist Idee ... er ist kein körperlicher Organismus". Krankheit entsteht, wenn die Illusion ihrer Existenz im menschlichen Denken Oberhand gewinnt. Sobald unser Geist die illusionäre Natur des eigenen Leidens durchschaut, werden sich alle körperlichen Beschwerden verflüchtigen. "Was Er schafft, ist gut ... Daher ist die einzige Wirklichkeit von ... Krankheit und Tod die schreckliche Tatsache, dass menschlichem Irren Unwirklichkeiten wirklich erscheinen, bis Gott ihnen ihre Maske abreißt. Sie sind nicht wahr, weil sie nicht aus Gott sind." So wird Geistiges Heilen zur metaphysischen Aufklärung, die es Verblendeten wie Schuppen von den Augen fallen lässt. Derart erhellt, kann uns jede Heilung widerfahren, denn "der Geist regiert den Körper nicht teilweise, sondern ganz und gar."
Wenn viele Gläubige trotz inbrünstiger Gebete krank werden oder es bleiben, so deshalb, weil ihr Glaube "blind" ist - "eine Wahrheit hinnimmt, ohne sie zu begreifen", wie Mary Baker lehrt. "In diesem Geisteszustand namens ‚Glaube' liegt eine Gefahr; denn falls Wahrheit bloß akzeptiert, aber nicht verstanden wird, kann Irrtum ihn verdrängen." Erst "Christliche Wissenschaft" veredelt den Glauben zum Wissen, wodurch wahre, vollständige Heilung überhaupt erst möglich wird.
Zwei Jahre nach Erscheinen von Wissenschaft und Gesundheit heiratet Mary Baker erneut, diesmal einen ihrer Schüler, Arthur S. Eddy. Gemeinsam mit ihm und weiteren Anhängern gründet sie 1879 eine Vereinigung, die 1892 unter dem Namen "Erste Kirche Christi, Wissenschaftler" mit dem Hauptquartier in Boston reorganisiert wird. Sie verfolgt "den Zweck, das ursprüngliche Christentum und sein verlorengegangenes Element des Heilens wieder einzuführen". Von dieser "Mutterkirche" in Boston aus wird seit über einem Jahrhundert ein inzwischen den ganzen Globus umspannendes Netz von Zweigkirchen und örtlichen Gemeinden an straffen Zügeln geführt, kompromisslos darauf bedacht, dass die reine Lehre nicht verwässert und möglichst unverändert weitervermittelt wird; dafür hatte Baker testamentarisch sowie in einem "Kirchenhandbuch" strikte Vorkehrungen getroffen.
Die über 3000 "Wissenschaftler"-Gemeinden in über 60 Ländern, davon hundert in Deutschland mit angeblich 2000 Mitgliedern, halten ihre Gottesdienste in puritanisch schlichtem Rahmen ab, in einem schmucklosen Raum, dessen auffälligstes Inventar ein breites Lesepult bildet. Sakramente und kultische Handlungen fehlen. Stattdessen tragen zwei "Leser", die von den Gemeindemitgliedern für jeweils drei Jahre gewählt werden, biblische Texte und Auszüge aus Eddys Wissenschaft und Gesundheit vor, deren 708 Seiten den Stoff nie ausgehen lassen. In der zweiten Hälfte der "Mittwochszeugnisversammlungen" darf über Heilungen und andere geistliche Erfahrungen berichtet werden. Großes Gewicht hat in den Gemeinden der "Heilungsdienst", der allerdings hauptamtlichen "Ausübern" (Practicioners)
vorbehalten bleibt; diese werden von der Bostoner Mutterkirche ausgebildet und autorisiert. Um Hilfesuchende kümmern sie sich durch intensives Gebet, das den Geist auf das allumfassende Gute ausrichten und diese Quelle unendlicher Energie für die Heilung des Kranken erschließen soll. Dazu brauchen "Ausüber" ihre Klienten nicht persönlich aufzusuchen. Oft kennen sie nur Namen und Telefonnummer des Kranken und Grundzüge seines Problems.
Einer der rührigsten
Öffentlichkeitsarbeiter der "Christlichen Wissenschaft" im deutschsprachigen Raum ist der österreichische Naturwissenschaftler Dr. Robert Ennemoser. Von der Biologie über die Homöopathie zum Geistigen Heilen: Diese drei Etappen kennzeichnen den außergewöhnlichen Werdegang des Salzburgers. Als Sohn eines Landschaftsarchitekten hattte er zunächst Biologie studiert, um die Arbeit des Vaters durch wissenschaftliche Expertisen zu unterstützen. Als Doktorand begann er sich für Homöopathie
zu interessieren, arbeitete sich gründlich in sie ein und praktizierte sie jahrelang. Dabei hörte er immer wieder von rein spirituellen Heilungen, wobei ihm wiederholt Menschen begegneten, die ihre Genesung auf Anregungen aus Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift zurückführten. Nachdem sich Ennemoser mit Baker-Eddys Lehre auseinanderzusetzen und sie anzuwenden begann, erlebte er wiederholt Spontanheilungen - nicht nur bei Patienten, auch bei sich selbst. Inzwischen
ist er vollberuflich und "ausschließlich spirituell" als "Christian Science Praktiker" tätig und bereist als einer von 45 "Sprechern", die den formellen Segen der Mutterkirche haben, ganz Europa. Als eines der ersten Heil"wunder", die ihm zuteil wurden, erzählt er seinen Zuhörern gerne die blitzartige Genesung von einem Bienenstich, den er sich zuzog, als er im Freien barfuss lief. "Ich war es gewohnt, auf biologische Weise zu denken: Wenn man Gift
in ein Gewebe injiziert, ergibt sich daraus eine bestimte Wirkung. Aber ich lernte in Wissenschaft und Gesundheit, dass es ein höheres Gesetz gibt, das die Wirkung eines niederen, biologischen blockiert und aufhebt. Was ich also zu tun hatte, war, mich im Gebet an dieses höhere Gesetz zu wenden, was ich auch tat. Nach einigen Minuten war der Schmerz völlig verschwunden, und eine Schwellung des Gewebes, die normalerweise stattfindet, blieb gänzlich aus."
Was "Christliche
Wissenschaftler" fernheilend erreichen, bezeugen das Christian Science Journal, die "Wächter"-Schriftenreihe (Christian Science Sentinel) und vor allem, seit 1908, das publizistische Glanzstück der Muttterkirche, der Christian Science Monitor, eine Tageszeitung auf beachtlichem journalistischen Niveau, die noch von Baker Eddy selbst, damals schon 87, ins Leben gerufen worden war und seither mehrere Pulitzer-Preise errungen hat. Den Heilungszeugnissen zufolge verschwanden keineswegs bloß Lappalien wie Insektenstiche oder rein funktionelle Leiden. Auch schwerste organische Krankheiten, derentwegen Betroffene oft schon an der Schwelle zum Tod standen, scheinen mittels Gebet manchmal geradezu schlagartig gelindert oder beseitigt worden zu sein. Allein im Zeitraum von 1971 bis 1981 publizierten das Journal und der Sentinel 1430 Fälle von Gebetsheilungen bei einem spezifischen körperlichen Problem: darunter Multiple Sklerose, Epilepsie, Rückgratverkrümmung, Krebs, Grauer Star, Glaukom, Diabetes, spinale Meningitis und Blindheit; 46 Prozent davon waren durch eine medizinische Diagnose gesichert, zehn Prozent durch ärztliche Nachuntersuchungen. Einige der imposantesten Fallbeispiele hat der amerikanische Schriftsteller Robert Peel, Autor einer uneingeschränkt schmeichelhaften dreibändigen Eddy-Biografie, in seinem Buch Spiritual
Healing In A Scientific Age zusammengestellt.
Aber auch "christlich-wissenschaftlich" sind die Gesetze der Natur nicht gänzlich außer Kraft zu setzen. Am 3. Dezember 1910, im Alter von 89 Jahren, erlag Mary Baker Eddy in Boston, wie alle Menschen, einer außerordentlich überzeugenden Illusion des Todes.
Quellenangaben und weitere Literaturhinweise in Fernheilen, Band 1. |