An der vorgeblichen "wissenschaftlichen Fundierung" des Therapeutic Touch sind erhebliche Zweifel angebracht (s. Band 2 von Fernheilen) - ungeachtet der imposanten Zahl von 18 Dissertationen, 22 Forschungsprojekten im Anschluss an Promotionen (post-doctoral) und Hunderten von Diplomarbeiten, die diesen Ansatz angeblich grandios bestätigen. Ihre
methodischen Mängel haben der TT-Erfolgsstory allerdings keinen Abbruch getan. In der Heiltechnik des «Energietransfers», die Frau Krieger jahrelang als außerordentliche Professorin an der Universität New York, Abteilung Krankenpflege, lehren durfte, sollen bis Ende der neunziger Jahre schon über 100'000 Menschen unterwiesen worden sein - unter ihnen rund 50'000 Krankenschwestern und Vertreter anderer Heilberufe, die TT seither im Krankenpflegealltag anwenden: in onkologischen
Abteilungen, in Intensivstationen, im Operationssaal - z.B. begleitend bei Organtransplantationen -, in Abteilungen für Gynäkologie und Geburtshilfe. Binnen zwei Jahrzehnten hat die TT-Bewegung das nordamerikanische Gesundheitswesen in einem Maße durchdrungen, von dem zentraleuropäische Heilerschulen nur träumen können. Dutzende von Vereinigungen und "Netzwerken" TT-Praktizierender entstanden, allen voran die offizielle Standesvertretung Nurse Healers - Professional Associates International (NH-PAI), die von Salt Lake City, Utah aus die "Mission" erfüllt, "zu vorzüglicher Anwendung des Therapeutic Touch als einer Heil- und Lebensweise anzuregen und diese weiterzuentwickeln". Sie führt TT-Ausbildungen durch, zertifiziert Absolventen und vermittelt ihnen Kundschaft, organisiert Konferenzen und Heilertreffen, achtet auf die Einhaltung eines Verhaltenskodex, bibliographiert alle TT-relevanten Veröffentlichungen, vertreibt Bücher und Videos. An über hundert US-amerikanischen Colleges und Universitäten sind bereits TT-Trainingszentren eingerichtet worden. Der Berufsverband «Nationale Liga für Krankenpflege» hat eine Serie von Video-Lehrfilmen über TT produziert. Inzwischen konnte die "Nordamerikanische Vereinigung für Krankenpflegediagnostik" (North American Nursing Diagnosis Association)
dazu bewegt werden, eine "Energiefeldstörung" als eigenständiges Krankheitsbild offiziell anzuerkennen und TT dafür als "primäre Intervention" zu empfehlen. Immer mehr Krankenversicherungen gehen dazu über, Kosten von TT-Behandlungen zu erstatten. Das "Büro für Alternativmedizin", welches die National Institutes of Health (NIH) 1992 einrichteten, hat TT bescheinigt, von allen "alternativen" bzw. "komplementären" Therapieformen über "eine der stärksten Forschungsgrundlagen" zu verfügen, und zur weiteren Erforschung 150'000 US-Dollar bewilligt. Washingtons Department of Health and Human Services investierte 200'000 Dollar in TT-Forschungsprojekte, das amerikanische Verteidigungsministerium 1994 gar 355'000 Dollar, mit denen die Universität Birmingham, Alabama herausfinden sollte, ob TT Schmerzen und Infektionen bei Patienten mit schweren Verbrennungen lindern kann.
Auch im benachbarten Kanada greift TT triumphal um sich: In manchen Krankenhäusern gehört TT inzwischen schon obligatorisch zur Ausbildung von Krankenpflegepersonal, in vielen anderen wird es zumindest fakultativ angeboten, wie seit längerem schon in den USA. Berufsvereinigungen von Krankenpflegern in den kanadischen Bundesstaaten Quebec, Ontario und Victoria haben Therapeutic Touch formell als nursing modality anerkannt. Ein 1994 in Ontario gegründetes TT-Netzwerk hat inzwischen über 1200 Mitglieder. "Die Welt erwacht", frohlockt dessen Mitbegründerin Crystal Hawk. In rund 70 Ländern wird Therapeutic Touch heute praktiziert und gelehrt, zunehmend auch im deutschsprachigen Raum. Auf TT schwört beispielsweise der Schweizer Heiler Hans Zurfluh in Beinwil. Nachdem er diese Methode an der Universität von New York bei der Krieger-Schülerin Maud Pollock kennengelernt hatte, wendet er sie seither in seiner Praxis an, gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth, einer ausgebildeten Kinderkranken- und OP-Schwester. Dabei kombinieren sie TT mit Farb- und Edelsteintherapie, mit Visualisierungen und «Rückführungen» in frühere Leben. Besonders gute Erfolge erzielen sie damit, nach eigenen Angaben, bei chronischen Schmerzzuständen, aber auch «bei psychischen Problemen, Rücken-, Lungen- und Herzproblemen, Allergien und Beschwerden des rheumatischen Formenkreises», häufig bereits innerhalb von ein bis drei einstündigen Sitzungen.
Zur enormen Verbreitung des "Heilenden Berührens" trug sicherlich bei, dass es Dolores Krieger fern lag, Aversionen gegen die Schulmedizin zu schüren; im Gegenteil, sie wurde nie müde, bei jeder Gelegenheit zu betonen, wie notwendig eine enge Zusammenarbeit mit Ärzten sei. Als Ergänzung konventioneller Maßnahmen eignet sich die «Heilende Berührung» nach ihrer Erfahrung besonders in zweierlei Hinsicht: Sie erzeugt im Patienten ein tiefes Gefühl von Entspannung, außerdem lindert sie Schmerzen und Ängste - beides wichtige Faktoren, die bei einer Vielzahl von Krankheiten den Heilungserfolg fördern.
Ungeachtet von Forschungsdefiziten hat sich TT in der klinischen Praxis bewährt. Von den meisten Patienten dankbar begrüßt, baut dieses Verfahren fast jeden Behandelten zumindest psychisch wieder auf, auch wenn es die Somatik des Krankheitsverlaufs nicht immer so günstig beeinflusst, wie TT-Anhänger verbreiten. Als die Kommission für das Krankenpflegewesen des US-Bundesstaates Colorado kürzlich ohne Gegenstimme beschloss, TT auch weiterhin zu fördern, begründete sie dies unter anderem mit «dem Recht des Patienten, Zugang zum gesamten Bereich von Vorsorge- und Heilmaßnahmen zu erhalten». Ist dieses Recht nicht heilig, solange niemandem Schaden entsteht, der es wahrnimmt? Die zunehmend als seelenlos empfundene Apparatemedizin hat TT jedenfalls an Hunderten von amerikanischen Kliniken wieder ein wenig menschlicher gemacht. «Im Zeitalter der Wissenschaft», so Dolores Krieger, «in dem man sich für alles Mechanische und Synthetische (und damit oft genug Unmenschliche) begeistert, hat man die therapeutische Kraft der Hände schon fast vergessen.»
Mit ihrer Behauptung, «Energieströme» in Kranken anzuregen oder auf sie zu übertragen, ernten Geistheiler bei den meisten westlichen Schulmedizinern immer noch verständnisloses Kopfschütteln. Im Fernen Osten würden sie ernstgenommen: Denn dort herrschen, teilweise seit Jahrtausenden, Medizinsysteme vor, die im harmonischen Fluss ebensolcher Energien das Geheimnis körperlicher und seelischer Gesundheit sehen. Im Zuge der kulturellen Globalisierung wurden sie (oder was dafür gehalten wurde) auch in die westliche Esoterikszene importiert, in denen sie seither rasant um sich greifen, allen voran Reiki. Demgegenüber fristet eine andere Form von Energetischer Medizin, die aus der Orgonik des Freud-Schülers Wilhelm Reich hervorging, unverdientermaßen eher ein Schattendasein - vermutlich deshalb, weil sie zu akademisch nüchtern daherkommt, um religiöse Sehnsüchte unmittelbar zu befriedigen.
Quellenangaben und weitere Literaturhinweise in Fernheilen, Band 1. |