Das Christentum hat diesem «heidnischen Aberglauben» keineswegs ein Ende gesetzt. Es goss ihn lediglich in seine eigenen religiösen Formen, wobei sie ihn zeitweise zum Massenwahn steigerte. Nichts anderes als Fetische waren es ja, die zum heißbegehrten Ziel christlicher Sehnsüchte wurden, als der Kult um Reliquien aufkam - um Gegenstände, von denen man zu wissen meinte, dass sie mit Märtyrern und Heiligen oder gar mit Jesus Christus selbst irgendwann in physischen
Kontakt gekommen waren, sei es ein Kleidungsstück, Essgeschirr oder eine Sitzgelegenheit; am allerbegehrtesten aber waren irgendwelche sterblichen Überreste von ihnen, wie Haare oder Teile des Skeletts. Sie sollen Kräfte in sich aufgenommen haben, mit denen sie zeitlich unbegrenzt an beliebigen Orten segensreich weiterwirkten, ohne sich jemals abzuschwächen. Denn alle diese Überbleibsel waren ja einmal von der Seele des Märtyrers, von seinem Mut, seiner Tapferkeit und seiner Glaubensstärke
durchdrungen. Konnte diese Kraft jemals verlorengehen?
Schon die Bibel enthält mehrere Berichte über Reliquien, die Wunder gewirkt haben sollen. Demgemäß wurden bereits zu Zeiten des Apostels Paulus Kranke mit Tüchern und Gewändern des Heiligen berührt, und es ist bezeugt, dass daraufhin «die Krankheiten wichen und die bösen Geister ausfuhren» (Apostelgeschichte 19, 11). (Taschentücher von Paulus waren aus diesem Grund derart begehrt, dass sie angeblich unentwegt gestohlen wurden.)
Doch weitere Verbreitung fand die Reliquienverehrung erst, als mit der Bekehrung Kaiser Konstantins des Großen die Christenverfolgungen im Römischen Reich ein Ende nahmen. Nun konnten Gläubige ungestraft ausgraben, was von den Märtyrern übriggeblieben war, und sie in neuerrichteten Kirchen feierlich beisetzen. Viele Gräber wurden zu Kultstätten, in denen Kranke zu Tausenden nächtelang lagerten und beteten. Prächtige, kostbare Schreine wurden angefertigt, um einen einzigen, winzigen Splitter
vom Kreuze Jesu, einen Zacken aus seiner Dornenkrone oder irgendwelche anderen handfesten Erinnerungsstücke seiner Passion aufzunehmen. Vom 5. Jahrhundert an entstand keine Kirche mehr ohne irgendeine Reliquie.
Als die Nachfrage nach Reliquien immer weiter wuchs, nahmen Grabschändung und Leichenraub sprunghaft zu; gerissene Reliquienhändler zerteilten die entwendeten Überreste und verkauften sie teuer im ganzen christlichen Abendland. Da sie knapp waren, kamen immer häufiger auch echte
und angebliche Kleidungsstücke von Märtyrern auf den Markt, von diesen irgendwann berührte Gegenstände oder Folterwerkzeuge, mit denen sie der Fama nach gequält worden waren. Als Kaiser Karl der Große die Pfalzkapelle in Aachen erbauen ließ, erstand er Haare und ein Kleid der Muttergottes. Der Papst überreichte erlauchten Gästen gelegentlich Fellspäne vom Folterrost des heiligen Laurentius; diese Gaben wurden in goldene Schlüssel oder Ketten gefügt oder als Amulett getragen. «Ein wenig Staub
aus der Kirche des heiligen Martin», so versicherte im 6. Jahrhundert Bischof Gregor von Tours, «ist hilfreicher als alle unsinnigen Heilmittel.»
Als umsatzsteigernd erwies sich auch der Glaube, dass eine Reliquie beliebige weitere erzeugen kann, sobald sie mit anderen Objekten in Berührung oder ihnen auch nur nahe kommt. Ein Splitter vom Kreuz Jesu kann in Wasser getaucht, das Wasser in Flaschen gefüllt, der Flascheninhalt tropfenweise auf andere Objekte aufgebracht, diese Objekte
ihrerseits in Wasser getaucht werden usw.: ein beliebig fortsetzbarer magischer Infektionsweg, der unendlich viele weitere Energieträger hervorbringen kann.
Bis zum 9. Jahrhundert hatte der Reliquienhandel derartige Ausmaße angenommen, dass nur noch Fürsten oder Bischöfe es sich leisten konnten, ganze Leichname zu erstehen. Wenn Päpste einwilligten, Überreste von Heiligen ins Ausland überführen zu lassen, vollzogen sich solch «Translationen» mit unglaublichem Gepränge.
Mit der
Reformation setzte die Kritik an der Reliquienverehrung ein, vor allem durch Luther und Calvin. In der katholischen Kirche hat sich der umstrittene Kult bis heute gehalten, von vielen höheren Würdenträgern geduldet, wenn nicht gar gefördert. Nach wie vor pilgern jährlich Millionen Christen zu Wallfahrtsorten, an denen wohlbehütete Reliquien vorzufinden sind. Bis auf den heutigen Tag wird in Eichstätt das «Walburgisöl» verkauft, ein Gesteinswasser, das aus dem Grab der heiligen Walburga
träufelt. Wer mit einer offenen Wunde ins Schweizer Kloster Sarnen kommt, dem werden, zum Auflegen, Leinenstückchen feilgeboten, mit denen die Figur des Sarner Jesuskinds berührt wurde. Im niederbayerischen Ranoldsberg erhalten Kranke einige Tropfen geweihten Öls, das zuvor die Ampeln der Kirche gespeist hat.
Dass christliche Fetische nicht minder wirken als Redingtons Heiltücher, belegt eine unüberschaubare Vielzahl von Kirchendokumenten; allein die an vielen Wallfahrtsorten
ausliegenden «Mirakelbücher», in denen wundersam Genesene seit Jahrhunderten ihre Krankengeschichten verewigen, sind voll davon. Eine der berühmtesten Heilungen durch eine Reliquie widerfuhr einer Nichte des französischen Philosophen und Mathematikers Blaise Pascal, Marguerite Perier. Die junge Novizin litt seit 1643 an einer Augenfistel. Am 25. März 1646 küsste sie an einem Altar einen Dorn aus der Dornenkrone Jesu Christi, und eine anwesende Nonne berührte mit der Reliquie die Fistel. Eine
Viertelstunde später hörte die Wunde auf zu eitern, das Geschwür trocknete ab, und die Frau war geheilt. Dieser Vorfall erschütterte Pascal derart, dass er in sein Wappen ein Auge aufnahm, das von einer Dornenkrone umgeben ist. Darunter brachte er den lateinischen Spruch scio cui credidi an: «Was ich einst glaubte, weiß ich nun.» |