Als Reich 1939 beginnt, seine Kulturen auf Strahlungseigenschaften zu untersuchen, stößt er auf sonderbare Phänomene: Ein Reagenzglas mit einer bionenhaltigen
Kultur ruft eine Hautrötung hervor, lässt eine Warze auf Reichs Wange abheilen und hinterlässt Lichtspuren auf fotografischen Platten; in völliger Dunkelheit ist ihr leichtes, graubläuliches Leuchten selbst für das bloße menschliche Auge sichtbar.
Damit meint Reich das Orgon nun auch empirisch nachgewiesen zu haben; es wird zum Schlüsselbegriff eines umfassenden neuen Lehrgebäudes. Wer in Reichs Orgonik nur eine extravagante Therapierichtung sieht, unterschätzt sie; denn sie
beansprucht, einer neuen Physik den Weg zu bereiten, die wiederum zu einer radikal reformierten Biologie und Medizin führen soll. Orgon ist nicht nur in uns vorhanden - es kommt überall vor und durchdringt das gesamte Universum, sogar das Vakuum. Es bedingt und vermittelt alle Naturerscheinungen, einschließlich Elektromagnetismus und Schwerkraft. Im kosmischen Rahmen fungiert es als "zweite Kraft", die alles ordnet und aufbaut, dem Prinzip der Entropie entgegenwirkend, dem zufolge
sich alle Energie von einem Gebiet höherer zu niedrigerer Konzentration abbaut - was bedeuten würde, dass das Universum seit dem Urknall in wachsende Unordnung übergeht. Eben diesem Vorgang wirkt, nach Reich, das Orgon entgegen. Es führt zu "negativer Entropie": Lebensenergie, im Unterschied zur elektromagnetischen, fließt immer vom niederen zum höheren Potential und konzentriert sich dort, wo bereits Orgon vorhanden ist. Wie Reich versichert, lässt sich das Orgon sogar bei Tag mit
bloßem Auge am Himmel sehen - in Form von winzigen blauen Pünktchen ("Orgonbläschen"), die kurz aufleuchten. (Die ätherischen "Glühwürmchen" oder auch das "Flimmern", von dem Aura-Sichtige berichten, wird von manchen Esoterikern damit in Zusammenhang gebracht.)
1939 wandert Reich in die USA aus, zunächst nach Long Island im Bundesstaat New York; drei Jahre später baut er in Rangeley, Maine, ein "Orgonon" getauftes Forschungsinstitut auf. Von nun
an befasst sich Reich zunehmend mit technischen Möglichkeiten, dieses mysteriöse Orgon einzufangen und therapeutisch nutzbar zu machen. Ab 1940 baut er Kästen, die innen mit Stahlblech ausgeschlagen sind, mehrere Schichten von abwechselnd organischen Materialien und Stahlwolle enthalten und außen von Spanplatten zusammengehalten werden. In diesen "Orgon-Akkumulatoren" soll sich die atmosphärische Orgon-Energie konzentrieren, und Experimente mit tumorkranken Mäusen, aber auch mit
schulmedizinisch aufgegebenen Krebspatienten, die er in solche Kästen setzt, scheinen tatsächlich heilsame Wirkungen zu belegen. In der Folgezeit werden Behandlungen mit dem Akkumulator auf weitere Krankheiten ausgedehnt8, zugleich tüfteln er und seine Schüler an immer leistungsstärkeren Orgonkästen und weiteren Gerätschaften wie Orgondecke, Orgonrohre und Orgontunnel, Shooter ("Kanone") - ein Akkumulator im Kleinformat, der zur Versorgung kleinerer Wunden in jedem Haushalt stünde,
wenn es nach Reich ginge - und ein "Medical DOR-Buster" zum Bannen von schädlichem DOR. Die Geräte werden mit wachsendem Erfolg verkauft, bis die amerikanische Aufsichtsbehörde für Drogen- und Arzneimittel FDA (Federal Drug Administration) 1954, auf dem Höhepunkt einer neunjährigen Kampagne gegen Reich, dem Treiben ein rigoroses Ende setzt. Im März 1954 wird Reich verurteilt, alle Akkumulatoren vom Markt zurückzuziehen und zu zerstören; zudem soll er sämtliche
Schriften, Artikel und Beschreibungen, welche die Konstruktion und Verwendung des Akkumulators betreffen, verbrennen. Der Verkauf seiner Bücher wird unter Strafe gestellt. Weil Reich das Urteil ignoriert, wird er zwei Jahre später erneut angeklagt, diesmal wegen Missachtung des Gerichts. Der Prozess endet mit einer Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis; alle Bücher Reichs werden vom Markt genommen, zum Teil werden sie zusammen mit Akkumulatoren in Anwesenheit von FBI-Beamten verbrannt. Im
März 1957 tritt Reich, nachdem er im Sinne des Gesetzes für geistig gesund und zurechnungsfähig erklärt worden ist, seine Haftstrafe im Bundesgefängnis von Lewisburg, Pennsylvania an. Dort stirbt er acht Monate später am 3. November 1957.
Zwar hat Reich auch an Fernwirkungen der Orgon-Energie geglaubt und an entsprechenden Apparaturen getüftet; so entstand unter anderem ein Cloudbuster ("Wolkenbrecher") aus meterlangen Metallrohren, die über flexible Schläuche mit Wasserbehältern verbunden sind; selbst düsterstes Gewölk soll diese Konstruktion im Nu orgonomisch zu verflüchtigen können. Doch als Fernheiler - als Therapeut, der Patienten auf Distanz zu helfen versucht - ist Reich niemals aktenkundig geworden. Die stattliche Sammlung von ordentlich dokumentierten Behandlungserfolgen, die orgonomisch arbeitende Ärzte mittlerweile zusammengetragen und publiziert haben, umfasst ausnahmslos Kontaktbehandlungen. Dies hindert eine zunehmende Anzahl von Geistheilern freilich nicht daran, sich auf ihn als wissenschaftliche Autorität zu berufen, wenn sie allerlei "Orgonstrahler" auch für Fernbehandlungen einsetzen - Gerätschaften, deren Hersteller und Vertriebsfirmen ebenfalls ausgiebig Anleihen bei Reichs Begrifflichkeit und Lehrgebäude machen, ohne dabei auch nur ansatzweise Reichs experimentellen Ehrgeiz und wissenschaftliche Akribie zu entwickeln.
Unmittelbare Fernheilung, über beliebige Distanzen hinweg, wird dabei allerdings nur selten in Aussicht gestellt. Weitaus verbreiteter ist indirektes Fernbehandeln, über "orgonbestrahlte" und dadurch "energetisierte" Trägersubstanzen, die glaubens- und zahlungswilligen Klienten per Post zugestellt werden. (Auf "energetisierte" Hilfsmittel des Fernheilens gehe ich in einem folgenden Abschnitt ein.) In einer typischen Anordnung wird auf ein Trägermedium, z.B. Kügelchen aus Milchzucker (Globuli), die Spitze eines als "Orgonstrahler" dienenden Metallstabs gerichtet, dessen anderes Ende über ein "Lichtleiterkabel" mit einem Ampullenbecher verbunden ist. In diesem Behälter sammelt der "Strahler" Orgon, das über das Kabel "gereinigt", "konzentriert" und in fortwährendem Energiefluss an die Strahlerspitze abgegeben wird. Auf die jeweilige Diagnose zugeschnitten wird die Behandlung, indem in den Behälter eine Ampulle mit Kochsalzlösung gestellt wird, die zuvor mit der besonderen "Schwingung" der jeweiligen Krankheit - und dadurch mit "Informationen" über sie - "aufgeladen" wurde. Zum selben Zweck werden bisweilen auch homöopathische Mittel, Bach-Blütenessenzen, Kräuter, Edelsteine oder Energiesymbole in den Behälter gelegt.
Derart aktiviert, soll vor dem Orgonstrahler ein bioenergetisches Feld über eine Fläche von mehreren Metern nach vorne und zur Seite entstehen. Ein "Trägermedium" soll sich in einem solchen Feld binnen Minuten in ein hochwirksames Heilmittel verwandeln können.
So wirbt ein österreichischer Schamane und Reiki-Meister für einen angeblich "schon seit Jahren ausgereiften" Orgonstrahler, der die bessere Alternative zu Reichs Akkumulator darstelle - dieser ziehe nämlich "auch Radioaktivität und Röntgenstrahlung an und konzentriert sie. Das ist ... der Grund, warum wir uns vom Bau dieses Geräts distanziert haben, obwohl uns die genauen Pläne vorliegen". Angepriesen wird stattdessen ein "Orgonstrahler", mit dem "wir einen ganz neuen Weg gegangen sind, die Orgonenergie einzufangen und wieder abzugeben. Programmierte Kristalle sorgen dafür, dass die Orgonenergie gesammelt und über das strahlende Teil zu der Spitze des Orgonstrahlers geleitet wird." Dieser Strahl könne von jedem halbwegs Sensiblen "in der Handinnenfläche erfühlt" werden; "Hellsichtige" sähen ihn "wie ein Taschenlampenstrahl in blaugrauer Farbe leuchten". Auf "fremde Energiezufuhr (Batterien oder Netzanschluss)" sei dieser fabelhafte Strahler "nicht angewiesen". Er arbeite "ununterbrochen, und seine Lebensdauer ist unbegrenzt". Damit sei einerseits eine direkte "Energie- und Informationsübertragung auf Menschen, Tiere, Pflanzen und Gegenstände" möglich, andererseits auch eine "Fernbehandlung über Foto, Blutstropfen oder Haarlocke", auf die der Strahler gerichtet wird. (Diese Verfahrensweise mit "Proben" von Patienten hat die Radionik perfektioniert, um die es in einem späteren Abschnitt gehen wird.) Fürs Fernheilen "über Blut und Haare" gibt es neuerdings sogar den "Horusstab", den "Orgonstrahler für unterwegs". Für 180 Euro erwerben Gutgläubige mit einem knapp 14,5 Zentimeter langen Stab zugleich einen "sogenannten Kohärentivierer, d.h. er verdichtet oder verstärkt durch seine Konstruktion und Materialzusammensetzung das vorhandene Energiefeld (..Orgon-Energie ..) und projiziert somit Informationen und Energie in alle organischen und anorganischen Stoffe ... Am Stab befindet sich eine aus sieben Blättchen bestehende ‚Batterie', die durch Form und Anordnung Selbstreinigung sowie Strahlungsverstärkung bewirkt. Die verwendeten Materialien Messing, Gold, Bergkristalle, Quarzsand, Naturbaumwolle, Goldspirale, Wachs und Buchenholz gewährleisten eine sehr hohe und starke Strahlungsintensität. Darüber hinaus bewirken diese Inhaltsstoffe des Horus-Stabs eine Wandlung negativer Schwingungen (z.B. Radioaktivität, Funk und Radarstrahlen, Mikrowellen usw.). Zusätzlich sind die vorgenannten Materialien mit über 1000 positiven Informationen und Frequenzen aufgeladen." Zur "Fernbehandlung über Blut und Haare" eigne er sich hervorragend, so wird versichert.
Zu den überzeugten Anwendern derartiger "Orgonstrahler" auch zur Therapie auf Distanz zählen keineswegs nur esoterische Wirrköpfe ohne medizinische Vorkenntnisse, sondern auch etliche Heilpraktiker und Ärzte. Unter den knapp 500 Geistheilern, die ich im Rahmen der europaweiten Fernheilstudie EUHEALS betreute, befand sich immerhin auch eine Ärztin für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren, die von Niederbayern aus drei ihr zugeteilte Patienten jeweils sechs Monate lang einer "Orgonfernbehandlung" unterzieht - wobei sie Porträtfotos zwei- bis dreimal wöchentlich 5 bis 20 Minuten lang "bestrahlt".
Mit der wissenschaftlichen Untermauerung solcher Prozeduren hapert es vorerst. In der Szene eifrig zitiert wird neuerdings eine Studie der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg: Dort wurde zwischen August 2001 und Januar 2002 untersucht, ob orgonbestrahlte Globuli Wechseljahresbeschwerden lindern können. Verabreicht wurden die Kügelchen 20 Patientinnen zwischen 48 und 61 Jahren, die dreimal drei davon täglich über einen Zeitraum von acht bis zehn Wochen einnahmen. Der anschließende Befund klingt spektakulär: Bei sämtlichen elf typischen Symptombereichen hatte der Anteil der Frauen, die davon betroffen waren, deutlich abgenommen: unter anderem bei Schlafstörungen von 84 auf 32 Prozent, bei Hitzewallungen von 79 auf 34 Prozent, bei körperlicher und geistiger Erschöpfung von 79 auf 20 Prozent, bei depressiven Verstimmungen von 74 auf 21 Prozent, bei Nervosität von 68 auf 26 Prozent, bei Ängstlichkeit von 53 auf 11 Prozent, bei Herzbeschwerden von 37 auf null Prozent. Eine Placebo-Kontrolle fand allerdings nicht statt: Alle beteiligten Frauen schluckten die Globuli im Glauben, hier werde ihnen ein vielversprechendes neues Medikament verabreicht. Und deshalb ist nicht auszuschließen, dass die Kügelchen ebenso segensreiche Wirkungen entfaltet hätten, wenn zuvor ein Kochlöffel, ein Besenstiel oder ein Staubsauger auf sie gerichtet worden wäre.
Mit einer Mischung aus Befremden, Grausen und Resignation beobachtet eine der profundesten Kennerinnen des Reich-Nachlasses, die deutsche Ärztin Dr. Dorothea Fuckert, die Auswüchse angewandter Orgonomie. Die Allgemeinmedizinerin und Psychotherapeutin, die gemeinsam mit ihrem Arztgatten Dr. Manfred Fuckert eine angesehene Fachzeitschrift - die Lebensenergie - herausgab und seit 1987 das "Wilhelm Reich Institut für Interdisziplinäre Therapie" im Odenwalddorf Waldbrunn leitet, stellt unumwunden klar: "Eine Fernbehandlung mit Orgon kenne ich nicht. Eine Fernwirkung auf das atmosphärische Orgon kenne ich nur aus der Arbeit mit dem Cloudbuster, nicht aber auf den Menschen. Die ursprünglichen Orgongeräte (Akkumulator, Shooter, Medical DOR-Buster, u.a.) werden direkt am Menschen angewandt. Da Orgonenergie eine unspezifische Energie ist - ähnlich dem Prana, Qi oder Bioplasma - und vermutlich noch relativ nahe am Grobstofflichen, Materiellen liegt, kann ich mir eine Fernwirkung nur modifiziert oder kombiniert mit anderen Wirkungsprinzipien vorstellen, etwa mit spezifischer Information bestückt oder mit Bewusstseinsprozessen. Wenn Sie den Orgonstrahler nach Arno Herbert meinen, bekomme ich eine Gänsehaut, denn der hat unserer Erfahrung nach nicht mehr viel mit der Reich´schen Orgonenergie zu tun, weder von der Form her, noch von den Materialien, noch vom Wirkprinzip. (...) Was da wie wirkt, ist mir sehr schleierhaft. Auch dass so ein Geheimnis darum gemacht wird, weckt meine Skepsis. Reich legte alle seine Gedanken, Methoden und Ergebnisse radikal offen. Er wollte jedem Menschen die Möglichkeit geben, die Orgongeräte selbst zu bauen und anzuwenden. Diese Energie ist schließlich für alle da. Wasser wird schon verkauft, bald kommt vielleicht noch Frischluft dazu."
Von solch "moderner" Eso-Orgonomie distanziert sich Dorothea Fuckert vehement - nicht trotz, sondern gerade wegen ihres ungebrochenen Respekts vor Wilhelm Reichs Werk. "Eine meiner tiefen Enttäuschungen und Erschütterungen im Leben war die Erfahrung, mit wieviel Halbwissen, Aberglaube und Geschäftemacherei in der Alternativen Energieszene mit Orgonenergie umgegangen wird. (...) Jedenfalls kennen wir keinen seriösen Orgon-Fernbehandler." Und so hätten teletherapierende Neo-Reichianer, neben einer Orgon-Selbstbehandlung, vermutlich nichts dringender nötig als die Wiederkehr eines zweiten Wilhelm Reich. Doch darauf werden wir, wie die prophetischen Worte an seinem Grab befürchten lassen, wohl noch mindestens 950 Jahre warten müssen.
Quellenangaben und weitere Literaturhinweise in Fernheilen, Band 1. |
